Wainwood House - Rachels Geheimnis
er erreichte sein Zimmer, ohne entdeckt zu werden. Die elektrischen Lampen waren bereits ausgeschaltet worden, doch die langsam verglühenden Scheite des Kamins tauchten den Raum in ein rötliches Halbdunkel. Sein Bett war wie an jedem Abend bereits für ihn aufgeschlagen und das Kissen zu einer weichen Versuchung aufgeschüttelt worden. Auch Morgenmantel, Nachthemd und Pantoffeln lagen am Fußende für ihn bereit. Wen Julian dagegen nicht erwartet hatte vorzufinden, war Samuel Kingston, der in dem Sessel am Kamin eingeschlafen war. Julians vom Wein träger Verstand brauchte einen Moment, um diesen ungewohnten Anblick zu verarbeiten, denn die Dienstboten nahmen niemals in Gegenwart der Herrschaft Platz, am allerwenigsten in den herrschaftlichen Sesseln. Oder zumindest nahm Julian an, dass das Gesinde sich nicht heimlich in den dicken Rosshaarpolstern lümmelte, wie Kinder, wenn die Eltern außer Haus waren. Er trat unschlüssig näher, jetzt, da sie beide aus dem üblichen Rahmen herausgerissen worden waren, der bisher all ihre Begegnungen wie das Konstrukt einer Bühne gestützt hatte. Samuel war der Kopf im Schlaf gegen die Lehne gerutscht, eine verirrte Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Der Mund stand ihm offen. Julian war sogar sicher, ein leises Schnarchen zu hören. Natürlich stand außer Frage, dass er den Hausdiener nicht hier schlafen lassen konnte. Wie hätte das ausgesehen? Sie wären beide in arge Erklärungsnöte gekommen. Und doch zögerte Julian, ihn zu wecken. Gerade, als er sich schon halb über den Sessel gebeugt hatte, um ihn wach zu rütteln, zerbarst auf dem Kaminrost ein dicker Scheit Funken sprühend in zwei Hälften. Prompt richtete Samuel sich im Sessel auf, erschrocken den Schlaf fortblinzelnd.
»Sie sind eingeschlafen«, stellte Julian überflüssigerweise fest. Er sprach schnell weiter, obwohl Samuel stotternd um eine Erklärung rang. »Es tut mir leid, dass Sie so lange auf mich gewartet haben. Ich habe nicht daran gedacht, dass Sie noch hier ausharren würden.«
Samuel schloss den Mund wieder, ohne etwas zu sagen, offenkundig überrascht davon, sich in dieser absurden Situation wiederzufinden. Hausdiener, die während der Arbeit beim Schlafen erwischt wurden, bekamen in der Regel keine Entschuldigung, sondern vielmehr ihre Kündigung zu hören. »Sie waren vom Dinner nicht wieder heraufgekommen«, wagte er ins Feld zu führen. »Ich wollte mich noch um Ihre Garderobe kümmern.«
Dann schien ihm aufzufallen, dass er sich unmöglich aus dem Sessel erheben konnte, solange Julian halb über ihm gebeugt stand. Außerdem ging ihm womöglich die Frage durch den Kopf, was der junge Herr mitten in der Nacht im Herrenhaus getrieben hatte, während alle anderen Bewohner längst schliefen. Julian zumindest hätte sich an seiner Stelle diese Frage gestellt. Doch natürlich würde ein Diener es niemals wagen, eine solche Überlegung laut auszusprechen.
Erst mit einiger Verspätung richtete Julian sich auf und trat einen Schritt zurück. Als hätte er nur auf die Möglichkeit zur Flucht gewartet, schoss Samuel aus dem Sessel hoch und nahm neben dem Relikt seines Ungehorsams Haltung an. »Verzeihen Sie, Mr Rushforth, ich hätte nicht Platz nehmen dürfen«, erklärte er eilig. »Es wird nie wieder vorkommen, Sir.«
Dem konnte Julian nicht widersprechen, denn das wäre allen Sitten und Regeln des Anstandes zuwider gelaufen. Er beschränkte sich auf ein begütigendes Nicken, konnte aber gleichzeitig einen Hauch des Bedauerns nicht unterdrücken, nun, da sie zu ihren alten Umgangsformen zurückgefunden hatten. »Seien Sie unbesorgt, Samuel, von mir erfährt niemand ein Wort.«
Als würden sie beide einem vertrauten Zeremoniell folgen, nahm der Hausdiener ihm den Frack ab. Er klappte Julian den Kragen auf und zog das Band der Fliege darunter hervor. Mit geübten Handgriffen knöpfte er den steifen Kragen vom Hemd, so routiniert, dass seine Finger Julians warmen Hals höchstens streiften. Während Jules dazu überging, die lange Reihe der Perlmuttknöpfe seines gestärkten Hemdes zu öffnen, entfernte Samuel den Staub, der oben im Glockenturm an dem schwarzen Frack haften geblieben war, mit einer weichen Bürste und methodischer Effizienz. Natürlich kam ihm auch jetzt keine Frage über die Lippen. Die Verschwiegenheit eines getreuen Dieners galt als besondere Qualität, ganz gleich ob es dabei um Damenbekanntschaften, mitternächtliche Saufgelage oder Spielschulden ging. Nicht, dass Julian mit etwas
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