Wainwood House - Rachels Geheimnis
eiligen Händedruck am Fuße der Treppe voneinander verabschiedeten. Ihr hingegen blieben nur der prüfende Blick Mrs Chambers und die Gewissheit, dass eine respektable Antwort von ihr erwartet wurde.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich danach zu erkundigen«, hörte Jane sich selbst antworten und wusste, dass Mrs Tilling hochzufrieden mit ihr gewesen wäre. »Vieles ist noch neu für mich, doch ich finde mich schon sehr viel besser zurecht.« Die Lüge hätte nicht größer sein können, wenn sie behauptet hätte, am Nachmittag bei seiner Majestät König Edward zum Tee geladen zu sein. Doch sie wurde mit einem gütigen Nicken belohnt.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie letzte Nacht nicht zur Ruhe gekommen sind?«, hakte Mrs Chambers gewissenhaft nach. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass ihre Frage auf das verängstigte zweite Hausmädchen abzielte, oder auf das nächtliche Getuschel in den Frauenschlafkammern im Dachgeschoß.
»Manchmal überkommt mich das Heimweh«, spielte Jane die Sache herunter, »und dann schlafe ich schlecht. Es tut mir leid, wenn ich jemanden aufgeweckt habe.«
»Daran ist wahrhaft nichts Ungewöhnliches«, lenkte Mrs Chambers ein. »Die meisten der jüngeren Mädchen vermissen am Anfang ihre Familien. Das gibt sich mit der Zeit.«
Die Hausdame legte Jane zum Abschluss sachte die Hand auf den Arm. Es war die versöhnlichste Geste seit ihrer Ankunft auf dem Anwesen. Unfähig, auch nur einen Augenblick länger die Fassade bescheidener Strebsamkeit zu wahren, stotterte Jane einen zusammenhanglosen Satz über ungelüftete Kopfkissen und floh zu ihrer Arbeit in die herrschaftlichen Schlafzimmer, um nicht die Beherrschung zu verlieren und loszuheulen. Der eintönige Rhythmus der immer gleichen Handgriffe hatte eine angenehm beruhigende Wir kung auf sie, auch wenn sie sorgsam darauf achtgab, Beatrice für den Rest des Tages aus dem Weg zu gehen. An diesem Vormittag bürstete sie die Teppiche so energisch, als gelte es eine Armee aus Schmutz zu besiegen.
Von nun an begann Jane nach dem Tee stets ein wenig zu trödeln, um dem größten Andrang in der Gesindestube zu entgehen und ein paar Augenblicke der Ungestörtheit für sich zu haben. Die Köchin ging stillschweigend dazu über, die Teller ein wenig länger für Jane stehen zu lassen. So war es kaum verwunderlich, dass sie an einem grauen Nachmittag in der Woche vor Allerheiligen allein in der Gesindestube am Tisch saß.
Um diese Zeit gab es für die Hausmädchen eine kurze Atempause, bevor die letzten Anstrengungen für das abendliche Dinner der Familie unternommen wurden. Die Damen des Hauses saßen noch im Salon oder waren schon dazu übergegangen, sich für das Essen umzuziehen. In der Küche liefen die Vorbereitungen für die glanzvollste Mahlzeit des Tages an, gleich dem Aufruf zu einem allabendlichen Gefecht. Die Hausdiener legten ihre formelle Abendgarderobe an und deckten im Speisesaal mit feierlichem Bedacht den Tisch. Jane hegte somit eine gewisse Hoffnung, vorerst nicht gestört zu werden. Mit geschlossenen Augen hielt sie sich an einer heißen Teetasse fest. Ihre Hände waren in den letzten Wochen vom schmutzigen Seifenwasser, der Asche in den Kaminen und einer Möbelpolitur fragwürdigen Inhalts rissig und rot geworden. Ihre Knie schmerzten vom ewigen Bodenschrubben und ihre Schultern vom Tragen der Kohleeimer. Jane war nie ein schwächliches Mädchen gewesen, aber als Hausmädchen bekam sie die sehnigen Muskeln eines Mienenarbeiters. Den ganzen Tag über führte ihr Körper Befehle aus, wie eine seelenlose Maschine aus Muskeln und Sehnen, Knochen und Blut. Allein die Gedanken in ihrem Kopf gehörten noch immer ganz ihr und ihre Gedanken weilten stets in der Vergangenheit. Lautlos die Lippen bewegend, sagte Jane über ihre Teetasse gebeugt die Namen aller Pharaonen auf, als könne sie an ihrem früheren Leben festhalten, wenn sie sich nur sorgfältig genug erinnerte.
Doch so geheimnisvoll die uralten Namen in der englischen Gesindestube auch anmuteten, so wenig moch ten sie denselben Zauber wie in der sonnendurch glühten Wüste zu entfalten. Sie hatten nicht die Macht, den scharfen Lammeintopf ihrer Mutter zurückzubringen und nicht den beißenden Zigarrenqualm ihres Va ters. Stattdessen roch der ganze Gesindetrakt immer noch nach der Zitronenlauge, mit der den Tag über die Wäsche gebleicht worden war. Und der Tee in ihrer Tasse war nicht annähernd so schwarz und süß wie in den arabischen Kaffeehäusern ihrer
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