Wainwood House - Rachels Geheimnis
neben den Frauen. An dieser Stelle hatte es einiges Gekicher gegeben. Jane konnte sich lebhaft vorstellen, wie Hannas Darstellungen über ihre nächtlichen Albträume von den anderen Mädchen begierig aufgesogen werden würde. Geschichten über eine Zigeunerin, die im Schlaf um sich schlug und in einer fremden Sprache wirres Zeug redete, sobald sie in einem ordentlichen Bett schlafen musste, anstatt mit ihrer gesamten Familie auf dem Boden.
Lange nachdem es auf dem Gang wieder still geworden war, blieb Jane noch ausgestreckt auf ihrem Bett liegen, nicht willens wieder einzuschlafen, obwohl der Morgen immer näher rückte. Endlich rang sie sich dazu durch, ihr Bettzeug aufzuschütteln. Sie trank einen großen Schluck Wasser aus dem Waschkrug. Dann versuchte sie noch einmal einzuschlafen. Als die niederste Küchenmagd, ein dürres Mädchen von höchstens zwölf Jahren, um sechs Uhr gegen ihre Tür klopfte, glaubte Jane nur einen kurzen Augenblick eingenickt zu sein. Während sie ihre Schürzenbänder mit mechanischen Bewegungen verknotete und ihre dunklen Locken in einen strengen Haarknoten zwang, war sie insgeheim überzeugt, dass sie auf dem Weg über die steilen Treppen hinab in den Keller bereits im Gehen wieder einschlafen würde.
Doch die vor ihr liegenden Aufgaben erforderten glücklicherweise keine besondere Geistesgegenwart. Der Tag begann stets damit, dass sie die Stufen vor dem Haus fegte. Es waren unzählige Stufen, wie Jane bei dieser Gelegenheit jeden Morgen aufs Neue feststellte, und die Freitreppe beeindruckte zudem durch ihre majestätische Breite. Die ersten Herbstwinde hatten das Laub von den Bäumen im Park gerissen, und sie musste darauf achten, dass sie trotz aller morgendlichen Müdigkeit in der Dämmerung kein einziges Blatt übersah. Doch die klamme Kälte reichte schließlich aus, um Jane endgültig aufzuwecken. Wieder im Haus ging sie den anderen Hausmädchen beim Putzen zur Hand. Eine Pflicht, die ihr ebenfalls keine geistigen Höchstleistungen abverlangte. Es waren die immer gleichen Handgriffe, die Jane so beängstigend schnell in Fleisch und Blut übergingen, dass sie in Gedanken meist an gänzlich anderen Orten weilte, während sie in Wainwood Kohleeimer von Zimmer zu Zimmer schleppte, auf den Knien die Böden wienerte und Berge schmutziger Wäsche in den Keller schaffte. Ermuntert von Beatrice’ Vorbild, waren die übrigen Hausmädchen dazu übergegangen, Jane die stumpfsinnigsten und unangenehmsten Arbeiten aufzubürden. Und da sie nichts über das alltägliche Leben in einem englischen Herrenhaus wusste, musste sie sich ganz auf die Anweisungen der übrigen Dienerschaft verlassen. Mit dem Ergebnis, dass sie losgeschickt wurde, um von Mrs Chambers die Kerkerschlüssel zu erbitten oder für die Köchin Bucheckern im Park zu sammeln. Diese frei erfundenen Aufträge endeten jedes Mal mit dem hämischen Gekicher der Mädchen und sorgten bei Jane für eine stetig wachsende Verärgerung.
Als die große Standuhr im Salon acht schlug, huschte Jane gerade noch rechtzeitig zum Frühstück in den Keller herunter. Wie üblich war nur noch der hinterste Stuhl nahe der Tür für sie frei geblieben. Die übrigen Dienstboten saßen bereits beim Essen. Der lang gezogene Raum wurde von einem gewaltigen Holztisch beherrscht, der von Generationen von Dienstboten mit Kratzern, Scharten und Brandflecken versehen worden war. Hier verbrachten sie ihre Mahlzeiten und Pausen. Hier warteten sie darauf, hinaufgerufen zu werden. Und hier wurden auch alle wichtigen Gespräche geführt, Bündnisse vertieft und Rivalitäten demonstriert. Über einem altersschwachen Klavier hing eine vergilbte gerahmte Liste an der Wand. Mit Mrs Chambers feinsäuberlicher Handschrift waren die Regeln für das Betragen der Dienstboten darauf festgehalten. Es handelte sich vor allem um Verbote. Es war untersagt, den Garten zu betreten, bei der Arbeit zu singen oder von Raum zu Raum zu rufen. In der Gegenwart der Herrschaft durfte ein Dienstbote niemals das Wort ergreifen, außer es ließ sich partout nicht vermeiden. Kam der Befehl, eine Dame oder einen Herrn zu begleiten, so musste dies stets zwei Schritte hinter ihnen geschehen. Und unter gar keinen Umständen durfte der Eindruck entstehen, die Diener würden den Gesprächen der Familie folgen, die in ihrer Gegenwart stattfanden. Sie hatten sich unauffällig im Hintergrund zu halten, keine Miene zu verziehen und sich so leise zu bewegen wie irgend möglich. Die Aufzählung schloss
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