Wainwood House - Rachels Geheimnis
Baumstamm und erinnerte sich daran, dass sie kein Messer mehr an ihrem Gürtel trug, sondern stattdessen eine sorgfältig gestärkte, einstmals strahlend weiße Schürze.
»Wer ist da?«, fauchte sie und tastete mit der Hand auf dem Boden nach einem Stein, um sich zu bewaffnen. Leider hatten die Gärten von Wainwood House nichts dergleichen zu bieten, und alles, was ihr an den Fingern kleben blieb, war Laub und feuchte Erde. Die hochgewachsene Gestalt eines Mannes war bei ihrem Ruf stehen geblieben. Eine weiße Hemdbrust leuchtete in der Dämmerung auf und das helle Oval eines Gesichts, dessen Züge Jane von ihrem Versteck aus nicht erkennen konnte.
»Ich komme in friedlicher Absicht«, erklärte eine vertraute Stimme, »und bin gänzlich unbewaffnet.« Samuel Kingston schien in ihre Richtung zu spähen, und sie spürte, auch ohne sein Gesicht zu sehen, dass er lächelte.
Jane rappelte sich auf und wischte sich die Hände am Rock ab. Als sie hinter dem Baum hervortrat, sah sie, dass Samuel eine gefaltete Decke über dem Arm trug. »Sie sind ohne Ihren Mantel hinausgerannt«, sagte er so vorwurfsvoll, als obliege ihre körperliche Un versehrtheit genauso seiner Obhut wie die von Julian Rushforth.
»Ich dachte, das würde nun auch nicht mehr ins Gewicht fallen.« Jane wollte abwehrend knurren, doch zu ihrem Verdruss wurde ein zittriges Schniefen daraus.
Samuel hielt ihr ein Taschentuch entgegen, das so sauber war wie sein steifer Hemdkragen. »Sie sind nicht das erste Hausmädchen, das ein Tablett mit Geschirr zerbricht«, erklärte er ihr sanft.
»Verscharrt Mr Frost ihre blanken Knochen hinter den Rosenbüschen?«, fragte Jane laut ins Taschentuch schnaubend.
»Nur, wenn unter den Fliesen im Weinkeller kein Platz mehr ist«, behauptete Samuel, ohne eine Miene zu verziehen. Er schüttelte die Decke auf und legte sie Jane um die Schultern. Seine kurze Berührung reichte aus, um sie von Neuem in Tränen ausbrechen zu lassen. Doch anstatt ihr gut zuzureden oder sie zum Haus zurückzuführen, legte Samuel ihr nur seine Hand auf die Schulter und dirigierte sie stumm tiefer ins Unterholz hinein. Ein ehrbares englisches Mädchen wäre selbstredend nicht mit einem jungen Mann in den Wald gegangen. Mrs Chambers wäre beim bloßen Gedanken daran, dass eine der ihr unterstellten jungen Frauen sich derart schamlos benahm, schockiert gewesen. Doch glücklicherweise hatte Jane nicht die geringste Ahnung von den ungeschriebenen Gesetzen des Anstands und der Ehre. Sie stolperte neben Samuel unter den tief hängenden Ästen des Waldes hindurch. Sie konnte keinen Pfad ausmachen und wusste nicht mehr, wo sie waren, doch alles erschien ihr besser, als jetzt nach Wainwood zurückzukehren. Plötzlich blieb der Hausdiener stehen und deutete wortlos auf das Ziel ihrer kurzen Wanderung. Vor ihnen ragten zwei große Findlinge am Flussufer auf und der junge Mann verschwand lautlos dazwischen in einer Nische.
Einen aberwitzigen Moment lang war Jane davon überzeugt, dass er sie in die Irre geführt hatte, um sie orientierungslos im Nebel zurückzulassen, doch dann leuchtete ein goldener Schein durch die Dunkelheit. Jane folgte dem Licht bis zwischen die Felsen. Jetzt erkannte sie, dass jemand über der windgeschützten Nische ein Dach aus Tannenzweigen gebaut hatte. Auf dem Boden brannte eine rostige Sturmlaterne. Ein Strohsack bildete ein behelfsmäßiges Lager. Samuel grinste verschwörerisch und machte eine einladende Geste. »Ich habe die Ehre und das Vergnügen, Sie in Benjamins Indianertipi willkommen zu heißen.«
Als hätte er ihr die Suite eines der imposanten Hotels offeriert, die sie in London und Kairo gesehen hatte, trat Jane zielstrebig auf den Strohsack zu und nahm darauf Platz. Das Dach aus Zweigen hielt tatsächlich den Regen ab und die Laterne verbreitete in Benjamins Tipi ein tröstliches Licht. Eine geraume Weile saßen sie schweigend nebeneinander, während auf Wainwood der Gong zum Dinner angeschlagen wurde und in dem Wäldchen die Schatten der Dämmerung immer mehr in die Nacht übergingen.
»Der Anfang ist immer am schlimmsten«, brach Sam das Schweigen, »Sie kennen noch niemanden und jeder im Haus steht über Ihnen.«
Jane betrachte ihn unauffällig von der Seite. Sie hielt noch immer sein Taschentuch umklammert und fühlte die untrügliche Gewissheit, dass ihre Frisur sich in demselben desaströsen Zustand befand wie ihre Schürze. Der junge Diener neben ihr unter dem Tannendach hingegen hatte zweifellos die
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