Wainwood House - Rachels Geheimnis
beleuchteten Kellergang stand.
In der Woche nach Allerheiligen erstarrten die unzähligen Grashalme des Parks im ersten Frost. Alle Dächer des Anwesens, von der Wetterspitze des Glockenturms bis hinunter zu den Ställen, wurden von einem weißen Reif überzogen, und die Pfützen trugen eine dünne Haut aus Eis. Während des Nachts die ersten Vorboten des nahen Winters Einzug hielten, wurden bei Tage in den Ställen und Hundezwingern Vorbereitungen für die diesjährige Fuchsjagd getroffen. Die Wildhüter tauschten sich mit Lord Derrington aus. Mundfaul, doch deshalb nicht weniger hingebungsvoll, sprachen sie über Fuchsbauten, Hundewürfe und die antretenden Reiter.
Doch auch im Herrenhaus wurden kaum weniger ehrgeizige Pläne verfolgt. Seit Tante Mildreds Abreise hatte Lady Derrington außergewöhnlich viel Zeit darauf verwandt, ihre jüngste Tochter Penelope mit Teegesellschaften und Damenbesuchen zu quälen. Sie nahm sie mit auf ihre nachbarschaftlichen Stippvisiten, überhäufte sie mit wohlwollenden Ratschlägen und ließ nichts unversucht, um ihre Umgangsformen aufzupolieren. Gleichzeitig verschlechterte sich Claires Laune mit jedem Tag, an dem sie nicht länger im Mittelpunkt der mütterlichen Aufmerksamkeit stand. Ihre üblichen Sticheleien wurden zusehends boshafter, und sie verbrachte lächerlich viel Zeit damit, an winzigen Ziertischen ihre Brieffreundschaften zu pflegen, während Penelope in die perfekte Ausrichtung eines Hutes eingewiesen wurde.
Obwohl sie Claires Schmollen genoss, hätte Penelope die Aufmerksamkeiten ihrer Mutter nur zu bereitwillig wieder an ihre ältere Schwester abgetreten. Doch stattdessen wurde ihr das Korsett enger geschnürt und die Wangen eingecremt. Die Hausmädchen erhielten eine pflegende Tinktur, die Pennys widerspenstigen Locken zu neuem Glanz verhelfen sollte, und die strikte Anweisung, ihr das Haar mit wenigstens hundert Bürstenstrichen zu kämmen.
Genevieve Goodall bedachte ihre jüngere Tochter bei jeder Gelegenheit mit einem aufmunternden Lächeln. In einem Anfall von Übermut ließ sie sich sogar dazu hinreißen, ihr zutraulich einen Arm um die Taille zu legen. Außerdem ließ sie einige Bemerkungen dahingehend einfließen, dass es nun an der Zeit sei, endlich eine richtige Dame aus ihr zu machen. Penny konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Mutter die Hoffnung hegte, die zahllosen Makel der Zweitgeborenen noch vor ihrem Debüt auszumerzen, damit niemand von Belang je von Penelopes weniger repräsentablen Seiten zu erfahren brauchte.
Glücklicherweise blieb Genevieves Aufmerksamkeit nie lange genug an einem Thema haften, um es tatsächlich bis zur Vollendung zu verfolgen. Als an einem frostigen Novembermorgen die Stoffproben für Claires neue Garderobe ankamen, konnte Penny unbemerkt aus dem Salon entkommen. Entschlossen, den größtmöglichen Vorsprung herauszuschlagen, bevor ihr Fehlen bemerkt wurde, zog sie sich nicht zum Ausgehen um, sondern schickte Hanna nur nach Mantel und Hut. Dank dieser unziemlichen Eile gelang es ihr gerade noch, Julian auf dem Weg zu seinem morgendlichen Ausritt abzufangen. Anders als Penny war er dem Anlass entsprechend in einen leichten Reitanzug gekleidet, samt Hut und Handschuhen, Stiefeln und Gerte. Ein Stallbursche hielt gerade eine schlanke Fuchsstute für ihn bereit, als Penny die Stufen der Freitreppe hinabgehastet kam. »Nimm mich mit«, verlangte sie energisch, »oder ich werde mit der nächsten Teetasse, die mir offeriert wird, geradewegs auf Lady Cavendishs immensen Hut zielen.«
»Das käme auf einen Versuch an«, erklärte Julian unbekümmert, als er sich in den Sattel schwang. »Zehn Punkte, wenn du die Krempe triffst, zwanzig für die Schleife und dreißig, wenn der Hut herunterfällt.«
»Immerhin würde ich dann nicht länger zu Besuchen genötigt werden«, räumte Penelope ein. Dennoch warf sie einen prüfenden Blick zurück, als stünde zu befürchten, dass die steinernen Wasserspeier sich von den Zinnen des Hauses herabschwingen würden, um sie zurück in den Salon zu schleifen. »Hilf mir rauf, bevor Mutter misstrauisch wird«, verlangte sie.
Julian zog einen Fuß aus dem Steigbügel und bot Penny seine Hand an, damit sie sich formlos hinter seinen Sattel aufs Pferd stemmen konnte. Er wartete, bis sie sicher saß, und er spürte, wie sie sich von hinten an ihm festhielt. Als er die Stute antraben ließ, sah Penelope gerade noch die schlanke Silhouette ihrer Mutter, die neben Claire am Fenster
Weitere Kostenlose Bücher