Wainwood House - Rachels Geheimnis
die Gemeinde darin übereingekommen, dass ihr neuer Pfarrer ein zugänglicher junger Mann war und dass sich die nötige Erfahrung mit der Zeit schon noch einstellen würde. Außerdem hatten sie nach über zwanzig Jahren die Predigten seines Vorgängers über gehabt und alle freuten sich auf etwas Abwechslung.
»Streng genommen sind wir hier, weil wir hoffen, ein Detail in den Kirchenbüchern nachschlagen zu können«, gab Julian zu und schüttelte die dargebotene Hand. Penelope verfolgte aus den Augenwinkeln, wie er den Sarg unauffällig musterte, scheinbar nicht ganz sicher, wer hier verstorben war.
»Nun, ich vermute, es gibt auch niemanden mehr, der ihr besonders nahesteht, nicht wahr?«, räumte der Pfarrer bedauernd ein, ohne ihre Unwissenheit bezüglich der Toten zu bemerken. »Und so zu sterben.« Er schüttelte bedauernd den Kopf, während Penelope und Julian sich um einen dem Anlass angemessenen Gesichtsausdruck bemühten. »Ich dachte daran, ihr gleich heute Vormittag die Messe zu lesen, da wohl niemand zur Beerdigung kommen wird. Nachher helfen mir ein paar der Burschen aus dem Dorf mit dem Sarg.«
Obwohl der Pfarrer das zeitliche Zusammenspiel nicht zusätzlich betonte, hoffte er doch offenkundig rechtzeitig zum Lunch seine Rolle in dem Trauerstück absolviert zu haben. Julian ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, bevor sie zu weiterer Anteilnahme ermuntert werden konnten. »Wir wollen nichts weniger, als Sie von Ihren Pflichten abhalten. Warum zeigen Sie uns nicht einfach, wo die Kirchenbücher verwahrt werden? Dann finden wir uns schon zurecht.«
Dieser Vorschlag schien alle zufriedenzustellen. Der Geistliche führte sie kurzerhand hinter der Sakristei durch einen Gang bis zu einer lang gezogenen Kammer. »Es ist kaum der rechte Ort für Studien«, entschuldigte er sich bei seinen Gästen, während er ihnen aufschloss. »Wenn Sie mir sagen, welche Jahre für Sie von Belang sind, könnte ich die Bücher in den Salon bringen lassen.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber ich denke, wir verschaffen uns gleich hier einen Überblick«, wehrte Julian ab. Penelope hielt sich schweigsam im Hintergrund. Tatsächlich hätte sie nichts dagegen gehabt, wenn der Pfarrer ihre bloße Anwesenheit schon im nächsten Moment wieder vergessen hätte. Dass sie mit Jules zur Kirche geritten war, um ein paar uralte Chroniken einzusehen, würde auf Wainwood gewiss mehr Fragen aufwerfen, als ihr lieb war.
Die Tür schwang auf, und sie atmeten den süßlich herben Duft der vergilbten Seiten ein, die sich seit Jahrhunderten in den ledernen Buchbänden geduldig selbst zersetzten. Der junge Pfarrer hatte ihnen eine ange schlagene Öllampe dagelassen. Das Flämmchen unter der bauchigen Glashaube tauchte die staubigen Bände auf den Regalen in ein unstetes Licht. Penibel nach Jahrzehnten geordnet, standen die Kirchenbücher Buchdeckel an Buchdeckel nebeneinander aufgereiht. Penelope hatte stets geglaubt, dank der endlosen Ahnengalerie auf Wainwood eine Vorstellung davon zu haben, wie weit die Geschichte ihrer Familie zurückreichte, doch erst als sie in dieses mittelalterliche Archiv trat, spürte sie, wie die Geschichte längst vergangener Epochen bis in die Gegenwart fortwirkte. Ihr war, als stünden die Geister der verstorbenen Goodalls neben den lebenden Familienmitgliedern aufgereiht und verfolgten leeren Blickes, wie sich ihre Nachfahren dort, wo sie einst Kinder geboren, Blut vergossen und Ehre angehäuft hatten, damit abmühten, sterbenslangweilige Dinnerpartys durchzustehen und akzeptable Ehemänner zu ergattern.
»Lass uns die Bücher einsehen und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden«, sagte Penelope mit unwillkürlich gesenkter Stimme. »Es ist nicht geheuer hier.«
Im Gegensatz zu ihr war Julian neugierig näher an die Regale herangetreten. Er hielt die Lampe höher, um die Jahreszahlen zu entziffern. Jetzt drehte er sich mit einem feinen Lächeln zu dem jungen Mädchen um. »Glaubst du plötzlich an Gespenster, Pence? Ich erinnere mich recht gut daran, dass du es damals gewesen bist, die mir erklärte, dass der Fluch deines dahingemeuchelten Ahnen im Ostflügel nicht mehr als ein albernes Schauermärchen ist.«
»Es könnte uns jemand erwischen«, sagte Penelope störrisch. »Und ich friere.«
»Jetzt klingst du wie Claire.« Unbeirrt zog Julian mit einem gezielten Griff nacheinander drei Bände hervor und wuchtete sie auf ein altersschwaches Stehpult, das bedenklich unter ihrem schweren
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