Wainwood House - Rachels Geheimnis
Gedanke, wie famos es doch wäre, sich so ungehindert wie ein Mann zu bewegen. Doch das erschien ihr derart verwegen, dass sie es noch nicht einmal Julian gegenüber erwähnte.
Derart in ungehörige Spinnereien und fruchtloses Bedauern versunken, schlenderte Penny auf den äußeren Rand des Dorfes zu. Hier wurden die einstöckigen Cottages immer ärmlicher, und die Straße wurde zu einem sandigen Weg, der sich zwischen windschiefen Ställen, Scheunen und Ginsterbüschen hindurchzog. Hier gab es keine malerischen Aussichten auf Englands grüne Auen, keine pittoresken Häuschen und um diese Jahreszeit noch nicht einmal einen blühenden Wildrosenbusch am Wegesrand. Umso überraschter war Penelope, als sie zwei Reiter zwischen den Scheunen sah. Sie hielten ihre Pferde gezügelt und führten offenbar eine an ausholenden Gesten reiche Unterhaltung. Der Kleidung nach handelte es sich um Gentlemen, doch sie waren noch zu weit entfernt, als dass Penny Einzelheiten hätte ausmachen können. Gerade als sie zu dem Schluss kam, dass es vernünftiger war, einer Begegnung aus dem Wege zu gehen, solange ihre Frisur einem Vogelnest glich und sie ohne Begleitung war, machte sie eine weitere Entdeckung. Leidlich verborgen hinter einem Ginsterbusch am Wegesrand stand ein junger Mann mit rotblondem Haar. Er reckte den Hals, um nach den beiden Reitern zu spähen. Als er sah, wi e sie ihre Pferde herumrissen, um wieder ins Dorf zurückzureiten, sprang er mit ein paar schnellen Schritten zu einem der unverschlossenen Heuschober. Er schlüpfte hinein, und gerade als er die Tür hinter sich zu ziehen wollte, entdeckte er Penny.
Sein Gesicht, fand sie in diesem Augenblick, war nicht unbedingt hübsch. Aber gerade durch seinen Mangel an Symmetrie brannte es sich sofort in ihr Gedächtnis. Die Nase wies einen markanten Höcker auf, der ihr etwas Vogelartiges gab. Der breite Mund hätte bei einem Mädchen vielleicht noch als schön gegolten, für einen Mann dagegen war er eindeutig zu groß geraten. Der Fremde lächelte ihr jetzt so heiter zu, als wären sie alte Bekannte, die sich zu einem sommerlichen Picknick draußen auf dem Land trafen. Am eindrucksvollsten waren seine Augen, blau und klar, und beschwörend auf sie gerichtet. Kurz bevor er die Tür hinter sich zuzog, hob er einen Zeigefinger an die geschlossenen Lippen, wie um sie zum Schweigen zu verpflichten.
Die beiden Reiter waren wieder umgekehrt. Es konnte höchstens eine Minute verstrichen sein, in der Penelope ungehörig gaffend mitten auf der Straße stehen geblieben war. Am liebsten hätte sie eine Begegnung vermieden, doch jetzt war es zu spät, um noch umzukehren, ohne von den Männern entdeckt zu werden. Ihre Pferde trabten bereits heran, und sie machten keine Anstalten, grußlos vorbeizureiten. Als sie auf Pennys Höhe waren, zügelten sie die Tiere und lüfteten höflich ihre Hüte. Aus der Nähe erkannte sie, dass es Ausländer sein mussten. Italiener vielleicht oder Spanier, denn sie mochten zwar wie Gentlemen gekleidet sein, doch ihre gebräunte Haut verwies auf eine weit wärmere Sonne als die Englands. Penny hatte nicht besonders viele Vergleichsmöglichkeiten, denn für gewöhnlich zeichneten sich selbst weitgereiste Gäste auf Wainwood durch eine vornehme Blässe aus. Sie erwiderte den Gruß mit einem kühlen Nicken, überzeugt, dass die Männer gleich weiterreiten würden, da sie einander noch nicht in einem gesellschaftsfähigen Rahmen vorgestellt worden waren. Stattdessen wurde das Wort an sie gerichtet.
»Guten Tag, Miss. Sie müssen verzeihen, aber wie Sie selbst sehen, sind mein Begleiter und ich Fremde hier«, wandte sich einer der beiden Männer an sie. Er hatte eine tiefe Stimme, und obwohl er fehlerfrei englisch sprach, tat er es in einem fremden Rhythmus, der seine Worte mit einer Art Singsang unterlegte. »Wenn Sie uns wohl sagen könnten, wohin uns unser Weg geführt hat?«
»Sie befinden sich in Wainwood«, ließ Penny sich zu einer Antwort herab, um nicht unhöflich zu sein. Sie verspürte den drängenden Wunsch, die beiden Männer stehen zu lassen. Für gewöhnlich bewegte sie sich nur unter Menschen, die sich über ihren adeligen Stand und ihre Familie im Klaren waren. Niemand hätte gewagt, ihr anders als mit Ehrerbietung zu begegnen, Claire, Julian und der kleine Benjamin einmal ausgenommen. Diese beiden Männer hingegen musterten sie unverhohlen und schienen keinen Wert darauf zu legen, mehr als den aller notwendigsten Konventionen Genüge zu
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