Wainwood House - Rachels Geheimnis
begann, sich das Kleid auszuziehen. Im Gegensatz zu den anderen Dienstboten erhielt Hanna nur selten einen Brief.
»Nein, es ist …« Ihre Zimmergenossin verstummte prompt wieder und strich verstohlen den groben Zwirn glatt, mit dem das Päckchen verschnürt war. »Es ist ein Geschenk«, hauchte sie verwundert.
Jane riskierte einen Blick über die Schulter, während sie mit den Haarnadeln in ihrer Frisur kämpfte. Sie sah, wie Hanna zwischen Aufregung und Verzückung schwankte und darüber sogar Janes bedrohliche Fremdartigkeit zu vergessen schien.
»Willst du es nicht aufmachen?«, schlug sie zur Ermutigung vor.
»Oh, das wage ich nicht! Ich hätte es gar nicht erst annehmen dürfen!«
In Unterröcken und Korsage trat Jane neben Hannas Bett und deutete auf den Schriftzug, der mit Bleistift in krakeligen Buchstaben auf das Packpapier geschrieben worden war. »Es steht dein Name darauf. Warum hättest du es also nicht annehmen sollen?«, ging sie die Angelegenheit von ihrer praktischen Seite an.
So viel Vertraulichkeit schien Hanna ein wenig zu beunruhigen, aber immerhin blieb sie auf dem Bett sitzen. »Aber ich kenne den Absender doch gar nicht«, protestierte sie schwach. »Nicht wirklich zumindest. Ich bin ihm nur ein paar Mal auf dem Weg ins Dorf begegnet. Er hat das Päckchen den Spülmägden mitgegeben. Was ist, wenn er keine ehrbaren Absichten hat?«
Verehrer des weiblichen Personals wurden von Mrs Chambers erst nach einer Verlobung geduldet und mussten auch dann noch eine gestrenge Musterung über sich ergehen lassen. Wie die Mädchen jemals in den Genuss eines Antrags kommen sollten, ohne vorher auch nur mit einem jungen Mann ausgegangen zu sein, gehörte zu den Mysterien, die Jane noch nicht ergründet hatte.
»Ein Päckchen scheint mir nicht besonders anrüchig zu sein«, erklärte sie mit einem Schulterzucken. »Außerdem könnte etwas Hübsches darin sein.«
Dieses Argument gab den Ausschlag. Hanna band die Schleife der Schnur mit zeremoniösem Ernst auf und faltete das braune Papier ordentlich auseinander. In der Mitte lag ein Stück Lavendelseife von der teuren Marke, die sonst nur Mrs Chambers und die Köchin benutzten. Eine getrocknete Kornblume zierte die Gabe.
»Oh«, hauchte Hanna und schien Janes Anwesenheit vergessen zu haben. Sie strich andächtig über das duftende Geschenk und nahm die getrocknete Blüte in die Hand.
Jane, die ihr Leben lang nur Kernseife benutzt hatte und auch keine Notwendigkeit sah, daran etwas zu ändern, hatte damit begonnen, ihre Haare auszubürsten. »Nun, zumindest wirst du besonders gut riechen, nicht wahr?«
»Ich werde sie doch nicht benutzen!«, sagte Hanna ernsthaft.
»Offenbar wollte doch jemand, dass du ein Geschenk erhältst«, argumentierte Jane. »Er wäre sicher enttäuscht, wenn du es nicht benutzt. Außerdem wäre es schade, sie einfach verstauben zu lassen.« Die Seife war, gemessen an ihrem kläglichen Gehalt, unerhört teuer. Deshalb erwiderte Hanna darauf sicherheitshalber nichts, doch Jane bemerkte, wie sie das Geschenk voller Sehnsucht betrachtete.
Sie beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen, und nahm ungefragt auf Hannas Bett Platz, mit dem Rücken zu dem anderen Mädchen. »Hilfst du mir mit dem Korsett?«, bat sie so selbstverständlich, als wären sie seit Jahren beste Freundinnen. »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.«
Ohne Hanna anzusehen, spürte Jane ihr Zögern. Es war plötzlich sehr still in der Dachkammer. Das leise Flackern der Kerzenflamme war die einzige Regung. Gerade als Jane glaubte, dass sie zu viel verlangt hatte, quietschten die Eisenfedern des Bettes, als sich ihre Zimmergenossin vorbeugte, um die Haken und Schnüre zu lösen. Jane spürte, wie das steife Geschirr aus Stoff und Knochenstreben sich löste. Unwillkürlich atmete sie tief durch.
»Stimmt es tatsächlich, dass du bei einem Beduinenstamm gelebt hast, der mit Kamelen durch die Wüste gezogen ist?«, wagte Hanna zu fragen.
»Nicht nur mit Kamelen«, erklärte Jane, ohne eine Miene zu verziehen. »Auch mit Eseln.« Als sie Hanna hinter sich nach Luft schnappen hörte, drehte sie sich grinsend zu ihr herum. »Du solltest nicht alles glauben, was Beatrice erzählt.«
»Oh, das war nicht Beatrice …«, beteuerte Hanna eilig. »Sondern Hugh, der Stallknecht. Er hat alle Abenteuer von Jamie Jones im Reich des Sultans gelesen.«
Obwohl sich Janes literarische Bildung nicht bis auf die wöchentlich erscheinenden Hefte des wagemutigen Jamie
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