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Wainwood House - Rachels Geheimnis

Wainwood House - Rachels Geheimnis

Titel: Wainwood House - Rachels Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stoffers
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unheimlicher sein würde als eine unterirdische Grabanlage. Die Gespenster, an die Hanna glaubte, existierten nur in ihrem Kopf, genau wie Janes Albträume nicht mehr als eine Mischung aus diffusen Ängsten und Erinnerungen waren. Jetzt waren es nur noch zwei Stufen, ein letzter Schritt, und sie stand in dem lang gezogenen Dachstuhl. In diesem Moment war es, als wäre die Kerze in ihrer Hand das einzige Licht im gesamten Kosmos. Jane kam der Gedanke, dass sie in ihrem weißen Nachthemd gut zu sehen sein musste. Doch das hätte vorausgesetzt, dass sich hier oben jemand versteckt hielt, der sie aus einem stillen Winkel heraus beobachtete, und das war gewiss nicht der Fall! Jane versuchte sich krampfhaft zu erinnern, ob sie die Tür zum Dachboden schon einmal angelehnt gesehen hatte, während sie sich um ihre eigene Achse drehte und ins Dunkel spähte. Zwischen den Dachschrägen zeichnete sich ein Gewirr aus klobigen Balken ab. Dazwischen standen in die Höhe gestapelte Koffer und Kisten, deren Umrisse in den Vordergrund traten, wenn sie an ihnen vorbeiging. Um besser zu sehen, nahm Jane die schützende Hand von der Kerze zurück und hielt sie in die Höhe. Während sie weiterschlich, machte sie zu beiden Seiten wuchtige Schränke in der Dunkelheit aus, eine Kommode, von der die Farbe abblätterte und eine verwaiste Schneiderpuppe. Das Jaulen des Windes war hier oben wieder viel lauter zu hören, doch das Knarren der Dielen war vollständig verstummt. Nichts rührte sich zwischen den Schrankkoffern und kaputten Möbeln. Kein monströs glühendes Augenpaar war zu sehen und keine geisterhafte Erscheinung. Nur eine Porzellanpuppe mit versengten Haaren starrte gleichgültig zurück, als Jane an ihr vorbeihuschte.
    Am anderen Ende des Bodens musste der Glockenturm aufragen. Jane wollte genau bis zu dieser Stelle gehen. Nur, um ganz sicher zu sein, dass es hier oben nichts gab, was Albträume wert gewesen wäre. Danach würde sie zu Hanna zurückkehren, um ihr Bericht zu erstatten. Wiederlegt durch die Wirklichkeit, würden sie beide keinen Gedanken mehr an Gespenster oder Pharaonenflüche verschwenden. Schließlich lebten sie beide in England, dem fortschrittlichsten aller Länder in dieser so fortschrittlichen Zeit! Jane hatte auf der Überfahrt sogar Schallplatten gehört, deren Musik über einen gewaltigen Trichter abgespielt wurde, und war in London an einem glanzvollen Filmpalast vorbeigekommen, der die Kunst der lebendigen Bilder anpries. Und war in diesem Sommer nicht sogar Englands erstes motorisierte Flugzeug vom Boden abgehoben? Es war nichts als reine Dummheit, in solchen Zeiten noch an Gespenster zu glauben.
    Mit diesem befriedigenden Gedanken war Jane am Fuße der Wendeltreppe zum Glockenturm angelangt. Sie leuchtete die Stufen hinauf, doch im Grunde gab es keinen Grund, oben nachzusehen. Dort würde es nichts außer Staub und Mäusedreck geben. Es war an der Zeit, ins Bett zu gehen. Beseelt vom Sieg der Vernunft drehte Jane sich herum, um auf der Stelle zu erstarren. Am äußeren Rande des Kerzenscheins stand regungslos wie eine Statue eine hochgewachsene, schlanke Gestalt. Jane erkannte den hellen Lendenschurz wieder, den kein englischer Gentleman jemals angelegt hätte. Er bedeckte gerade Hüften und Oberschenkel des Mannes. Sein nackter Oberkörper war deutlich sonnengebräunter als hierzulande üblich. Ein breiter Kragen aus Goldfäden und blauem Lapislazuli bedeckte seine Schultern. Am grauenhaftesten aber war der Kopf. Auf dem Hals thronte kein menschliches Gesicht, sondern das Haupt eines Falken mit spitzem Schnabel. Statt Haaren war ihm ein dunkles Gefieder gewachsen, und sein blauweißes Vogelgesicht glich auf den Pinselstrich genau den Papyruszeichnungen des falkenköpfigen Gottes Horus.
    Auf einen Schlag zersplitterte die Wirklichkeit wie in einem Spiegellabyrinth auf dem Jahrmarkt. Jane glaubte nicht mehr auf dem Dachboden zu stehen, sondern wieder in der unterirdischen Grabanlage in Ägypten. Wie in ihrem Albtraum konnte sie nicht schreien und nicht wegrennen. Stattdessen starrte sie die Erscheinung an, unfähig, sich zu rühren.
    Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Der Falkengott trat einen Schritt auf sie zu, die Hand bereits nach ihr ausgestreckt. Am anderen Ende des Dachbodens wurde die Tür geöffnet. Der Luftzug, der durch den Raum strich, brachte Janes Kerze zum Erlöschen. Mit einem Schlag standen sie in vollständiger Finsternis. Über ihnen im Glockenturm waren Stimmen zu hören,

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