Wainwood House - Rachels Geheimnis
der Küche drangen das ganze Jahr hindurch Düfte nach krossem Braten und heißem Karamell, nach frisch gebackenem Brot und Rosmarin, nach gerösteten Zwiebeln und geschmolzener Schokolade, doch im Dezember schien die Köchin überproportional viel Zimt und Nelken zu verbrauchen. Aus der nächsten Stadt kam eine Kiste mit getrockneten Feigen und Datteln an, deren süßer Duft Jane wie ein Schwall Heimweh entgegenschlug. Und wenn zwischen den Mahlzeiten tatsächlich eine ruhige Stunde übrig blieb, wurden Pfefferminzbonbons gekocht. Die Dienstmädchen hängten an den Geländern und Säulen üppige Girlanden aus immergrünen Zweigen auf. Die Kaminsimse wurden mit Stechpalmen geschmückt und die Türrahmen mit Misteln.
Nach dem abendlichen Dinner setzte August sich an das klapprige Klavier in der Gesindestube. Er spielte ein Lied, das Jane noch nie gehört hatte, das aber von allen Dienstboten sofort begeistert mitgesungen wurde. Es handelte vor allem von bitterer Kälte, Schneegestöber und einem fürsorglichen Monarchen. Während Jane auf diese Weise mit dem guten König Wenceslas und dem altenglischen Liedgut vertraut gemacht wurde, bastelten die Hausmädchen spitze Hüte aus buntem Papier. Papierhüte, lernte Jane an diesem Abend, waren an Weihnachten genauso elementar, wie Eierpunsch und Orangen, Plumpudding und brennende Kerzen. Es gab einiges Gekicher, als das Gespräch auf die weißen Beeren in den Mistelzweigen kam. Offenbar stand jede Beere für einen Kuss, auch wenn niemand Jane erklären wollte, was genau es damit auf sich hatte.
Von Hanna erfuhr sie, dass die Familie Goodall in den vergangenen Jahren nur mit wenigen Gästen Weihnachten gefeiert hatte. Das schien nichts Ungewöhnliches zu sein, denn offenbar ging es bei der Geburt Christi vor allem um den Gottesdienst in der Kirche, das gemeinsame Musizieren und ein traditionelles Festmahl. In diesem Jahr jedoch fand Lady Derrington, dass es an der Zeit sei, Nachbarn und Freunde zu einem Weihnachtsball einzuladen. Immerhin war das Haus bereits seit November nicht mehr voller Gäste gewesen. Das anstehende Fest war eine famose Gelegenheit, sich für empfangene Einladungen zu revanchieren und alte Freundschaften zu erneuern. Ein Hausball auf dem Lande rangierte unter all den Glanzleistungen einer Hausherrin noch vor einem sommerlichen Gartenfest oder einem feierlichen Dinner. Für gewöhnlich wurde noch Wochen später darüber gesprochen, entweder, weil wirklich alles auf das Beste gelungen war, oder aber, weil der Abend mit einer Reihe peinlicher Patzer und unterhaltsamer Skandale gewürzt worden war.
Doch das Gesinde war sich darin einig, dass es Lady Derrington seit Jahren gelang, jeden gesellschaftlichen Anstoß in ihrem Haus mit Bravour zu umschiffen. Dies glückte ihr vor allem, indem sie ihren Dienstboten das Äußerste abverlangte. Kratzer auf dem Tafelsilber wurden genauso wenig vergeben wie ein verschütteter Tropfen Wein beim Einschenken oder ein fehlender Knopf am gestärkten Hemd. Ein Ball bedeutete, dass der Tanzsaal und die Gästezimmer so lange geschrubbt und gebohnert werden mussten, bis die Dielen von dem Bienenwachs glänzten und die Gäste sich in den Messinglampen spiegeln konnten. Ganz zu schweigen von dem weihnachtlichen Dinner, den Erfrischungen für den Ball und all den kleinen Appetithäppchen zwischendurch, die in der Küche zubereitet werden mussten.
Die beiden Herrscherinnen über den Küchentrakt und das weibliche Gesinde, Mrs Chambers und Madame Baffour, schienen in der Woche vor Weihnachten überall gleichzeitig zu sein. Sie schrieben Listen, verteilten Aufgaben und überprüften die Ergebnisse. Wenn sie nicht die Küchenmägde und die Hausmädchen durch die Gegend scheuchten, diskutierten sie voller Inbrunst die Speisefolge und die Menükarte. Jane hatte erwartet, dass die übrigen Hausmädchen über die Last des Weihnachtsballes klagen würden, doch stattdessen herrschte im ganzen Haus aufgeregte Vorfreude, die auch von all der zusätzlichen Arbeit nicht gebrochen werden konnte. Fester Bestandteil der vorweihnachtlichen Aufregung schien das Warten auf den Schnee zu sein. Jane hatte keine Ahnung, was Schnee war, und sie hatte nur selten Gelegenheit, das Haus zu verlassen. Doch einmal sah sie durch die Fenster ein flüchtiges zartweißes weißes Gestöber. Es ging nur allzu schnell in einen eisigen Regen über, der in der Nacht gefror und sich in eine tückische Eisschicht auf den Stufen der Freitreppe verwandelte. Dennoch
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