Wainwood House - Rachels Geheimnis
wurde dem Schnee zu Weihnachten eine genauso große Bedeutung beigemessen wie den Misteln und dem Punsch. Der Einzige, den die Vorfreude und das Chaos vollkommen unberührt ließen, war Mr Frost. Wenn er durch die herrschaftlichen Zimmer schritt, schien er weder die Girlanden noch die glänzenden roten Seidenschleifen zu bemerken. Und keiner der Dienstboten hatte ihn jemals ein Weihnachtslied summen gehört. Am Morgen des 24. Dezember trug er seiner Lordschaft das Frühstück mit demselben unerschütterlichen Gleichmut auf wie an jedem anderen Tag des Jahres auch. In der Gesindestube wurden bereits Wetten darauf abgeschlossen, ob er sich am nächsten Morgen zu einem Weihnachtsgruß hinreißen lassen würde. Der Wetteinsatz in gezuckerten Mandeln stieg von Stunde zu Stunde.
Und endlich nach dem Frühstück wurde von den Gärtnerburschen ein majestätischer Tannenbaum durch das Portal getragen. Aufgekratzt verbreiteten sie derbe Scherze und hinterließen eine Spur aus Tannennadeln im Entree. Ein würziger Harzgeruch zog durchs Haus. Anstatt weiter die Stufen zu fegen, versammelten sich alle Dienstmädchen am Treppengeländer und reckten die Hälse, als der Baum aufgestellt wurde. Lady Claire und Lady Penelope hängten zusammen mit dem Kindermädchen bemalte Anhänger aus Glas und Blech in die Zweige, dicht neben Tannenzapfen und Süßigkeiten. Der kleine Benjamin durfte nicht beim Schmücken helfen, dafür blieb ihm Zeit genug, sich hinter dem Rücken der jungen Frauen die Taschen seines Matrosenanzuges mit Bonbons und Keksen vollzustopfen.
Am Nachmittag stand die gesamte Dienerschaft aufgereiht auf den Stufen vor dem Haus, während das erste Automobil die Allee des Parks herabrollte. Die meisten Ballgäste reisten erst morgen an, doch Lady Derrington hatte Colonel Feltham dazu eingeladen, sein erstes englisches Weihnachten nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Schoße der Familie zu verbringen. Außerdem hatte sie ihm vorgeschlagen, seinen jungen Freund, Lord Nyles, mitzubringen, der ihnen allen nach der Jagd in so herzlicher Erinnerung geblieben war. Dieser Einladung war ein sehr manierlicher Briefwechsel gefolgt. Lady Derrington hatte an Lord Nyles Mutter geschrieben, die wiederum mit Tante Mildred aufs Wärmste vertraut war. Auch Mildred hatte regen Anteil an der Weihnachtsplanung genommen. Am Ende hatten alle drei Damen dem Besuch ihren Segen gegeben, und Lord Nyles war keine andere Wahl geblieben, als ihrem Ratschluss Folge zu leisten.
Sie kamen unter einem wolkenschweren Himmel an. Als müsste sie das düstere Wetter wettmachen, begrüßte Lady Derrington die beiden Männer wie zwei verlorene Söhne, die gerade noch rechtzeitig zur Familie zurückgefunden hatten, um mit ihnen vereint die Geburt des Herrn zu feiern. Colonel Feltham ließ die überschwängliche Begrüßung duldsam über sich ergehen und Lord Nyles liebenswürdig. Im Laufe des Nachmittags trafen weitere Gäste ein. Jane fiel der junge Mann auf, der bei der Jagd so unglücklich gestürzt war und heute eine weit bessere Figur machte, als er mit wehenden Mantelschößen die Freitreppe heraufkam. Die eintreffenden Herrschaften verschwanden schier unter ihren schweren Pelzkragen und Hüten. Die Damen vergruben ihre Hände in Muffen aus weichem Fell, die Herren trugen maßgeschneiderte Lederhandschuhe. Keiner von ihnen würdigte die stummen Dienstboten zu beiden Seiten der Treppe eines Blickes. Während die Familie Goodall es offenbar niemals müde wurde, ihre Gäste voll warmer Herzlichkeit zu begrüßen, nahmen die Dienstmädchen die Mäntel entgegen. Diener schleppten die Koffer in die Gästezimmer und packten die umfangreiche Garderobe aus. Als Letzte traf Tante Mildred ein. Sie herzte die gesamte Familie, nur um sie im nächsten Atemzug für eine Reihe von Versäumnissen zu schelten. Ihr Mops Hector tat seine Meinung dazu mit einem beherzten Kläffen kund. Damit war die Gesellschaft bis zum Eintreffen der übrigen Ballgäste am Weihnachtsabend des 25. Dezember komplett.
Jane hatte den Gästen ebenso entgegengefiebert wie Lady Claire und ihre Mutter. Allerdings hoffte sie weniger auf ein Lächeln von Lord Nyles oder ein glänzendes Fest. Sie hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, ein paar Nachforschungen anzustellen. Da Thaddeus Feltham nicht gewillt war, ihr Antworten zu geben, zwang er sie ja geradezu, auf eigene Faust nach ihnen zu suchen. Es hatte Jane viel Geduld und gutes Zureden gekostet, bis sie Hanna für ihre Sache gewonnen hatte.
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