Wainwood House - Rachels Geheimnis
ihre Innenwände ab. Vielleicht verbarg sich unter dem Stoff ein Geheimfach. Wieder sah sie, dass das Futter bereits an einigen Stellen vom Gebrauch verschlissen war. Sie fuhr mit dem Daumennagel an den Nähten entlang und tastete über alle Wände. Nichts. Wenn Colonel Feltham etwas zu verbergen hatte, dann hatte er es nicht mit nach Wainwood genommen. Nur sicherheitshalber öffnete Jane noch einmal alle Schubladen. Sie fand alle so leer vor, wie sie es erwartet hatte, bis sie die letzte aufzog.
Thaddeus Felthams Ordnungsliebe entsprechend, hatte er seine persönlichen Dinge nicht wahllos im Zimmer herumliegen lassen. Sie lagen penibel aufgestapelt in der untersten Schublade seines Schrankkoffers. Da war die Times vom Vortag, die er im Zug gelesen haben mochte. Eine gestreifte Tüte mit gesalzenen Pistazien vom Bahnhof. Ein unversehrtes Tabakpäckchen und eine Pfeife, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Ein Füllfederhalter und ein Tintenfässchen. Eine Lupe. Ein abgegriffenes Fernglas neben einem buschigen Fuchsschwanz, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Jane schluckte schwer, als sie schließlich einen Revolver aus der Schublade hervorzog, dicht gefolgt von einer Schachtel Munition. Es war die nicht die erste Waffe, die sie in den Händen hielt. Ihr Vater hatte einen Revolver besessen und sie damit schießen lassen. Und in Wainwood gab es einen Schrank voller Gewehre für die Jagd. Doch es war Monate her, dass sie eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Ihr Gewicht hatte etwas seltsam Tröstliches. Mit einem routinierten Griff ließ sie die Trommel aufspringen. Der Mechanismus war so gründlich geschmiert, dass sie kaum Kraft aufwenden musste. Es steckten keine Patronen in den Kammern, doch als sie die Schachtel mit der Munition öffnete, fehlten vier Stück. Das Päckchen machte einen neuen Eindruck. Es war englischen Fabrikats, möglicherweise aus einem Geschäft in London. Colonel Feltham schien ihr nicht der Mann zu sein, der leichtfertig einen Schuss abgab. Beklommen fragte sich Jane, ob er wohl jedes Mal traf und worauf er gezielt hatte.
Zuletzt förderte sie eine Aktenmappe aus abgewetztem Leder hervor. Sie war nicht mit einem Schloss ge sichert, sondern mit einer straffen Schnur zugebun den. Jane glaubte am ganzen Körper zu fühlen, wie ihr die Zeit davonlief, als sie mit spitzen Fingern an dem Knoten herumzerrte. Gerade als sie entschlossen war, ihn mit dem Rasiermesser zu zerschneiden, gab die Schnur nach. Sie schlug den Aktendeckel auf. Im selben Moment waren die ungemachten Betten mitsamt Wainwood und Mrs Chambers vergessen. Jane verspürte eine wilde Genugtuung, als sie das Bündel mit den braunweiß gestreiften Falkenfedern hochhob. Es waren mindestens ein Dutzend, eingeschlagen in das Spitzentaschentuch einer Dame. Auf dem weißen Stoff prangten eingetrocknete Blutflecken. In einer Ecke war ein Monogramm eingestickt worden. Die beiden verschlungenen Buchstaben waren ein R und ein F.
Jane wickelte die Federn wieder in das Taschentuch und legte sie beiseite. Darunter fand sie eine Fotografie, die auf festem Karton gedruckt war, mit der Adresse eines Londoner Fotografen auf der Rückseite. Das Bild zeigte ein junges Mädchen, das sich bemühte, würdevoll zwischen einer römischen Säule und einem Palmenkübel zu posieren. Es schenkte dem Betrachter ein übermütiges Lächeln, geradeso als würde es die steife Prozedur im Studio des Fotografen amüsieren. Die junge Frau trug das hochgeschlossene Kleid und die ausladenden Röcke des vergangenen Jahrhunderts, doch ihre Gesichtszüge und die blonden dicken Locken erinnerten Jane an Claire und Penelope Goodall. Darunter lag ein zweites Bild, das dieselbe junge Frau zeigte, nur dass sie dieses Mal den Spitzenschleier einer Braut trug und am Arm eines Mannes stand. Jane musste die Lupe zur Hilfe nehmen, bevor sie den deutlich jüngeren Thaddeus Feltham wiedererkannte. Sein Gesicht war schmaler, seine Statur schlanker, und er lächelte mit einer jugendlichen Aufrichtigkeit, die ihm seit dieser Aufnahme vollständig abhandengekommen war.
Der restliche Inhalt der Mappe bestand aus vergilbten Zeitungsartikeln und Briefen, dazwischen ein Telegramm, das vor über zwanzig Jahren in Ägypten aufgegeben worden war. Jane blätterte fieberhaft durch die Papiere. Die herausgerissenen Zeitungsseiten mussten so alt sein wie die Fotografien und das Telegramm. Sie berichteten über den Tod einer jungen Engländerin, die in Kairo erstochen worden war. Einige der
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