Waisen des Alls

noch erkennen konnten, wohin sie traten und wo sie sich festhielten. Als Chel sie durch ein dichtes Astgewirr zu einer Stelle geleitete, wo man Ausblick hatte auf ein weniger dicht bewachsenes Gebiet, bemerkte Greg ein schwaches Leuchten, das von oben kam. Er hatte den Eindruck, dies sei die Krone eines gestutzten Baum, der mit der Zeit immer stärker umwuchert worden war.
    Allerdings hatte der Baum einen Durchmesser von achtzig bis neunzig Metern, was bedeutete, dass er an seinem Fuß etwa hundert Meter durchmessen musste.
    »Vor dem Krieg der Langen Nacht«, sagte Chel, »herrschten die Wälder Segranas über das Land. Ihr gewaltiges Laubdach erstreckte sich von den Küsten bis zu den Bergen. Nur die größten Bäume vermochten das Gewicht zu tragen, und auch nur dann, wenn sie ihre stärksten Äste
miteinander verwoben. Dies war ein solcher Baum, ein Säulenbaum, der in der Endphase des Krieges gegen die Traumlosen fürchterliche Schäden davontrug, die Flammen und die nachfolgenden klimatischen Extreme aber gleichwohl überlebte. Im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte brach irgendwann die ganze Westseite des Berges weg und begrub die Hälfte des Säulenbaums. Das Pflanzenleben bahnt sich immer einen Weg, und umgeben vom Wald und dem frischen grünen Bewuchs der Hänge gleicht dieses verkrüppelte Überbleibsel von Segrana-Die-War einem Vorhügel.«
    Er geleitete sie zur abgebrochenen Krone hinunter, die längst verrottet war, aber mit ihren bemoosten Holzplattformen und verfallenen Unterkünften noch immer Zeugnis ablegte von ihren ehemaligen Bewohnern.
    »Hier hat jemand gelebt«, sagte Alexej. »Weshalb haben wir von diesem Ort nichts gewusst?«
    »Es war eine kleine Uvovo-Gruppe«, antwortete der Seher. »Den Spuren nach zu schließen, gehörten sie zu den ersten Gruppen, die damals mit dem Shuttle nach Umara geflogen sind, nach Darien. Sehr traurig - sie haben sich in dem Erdreich dort drüben Behausungen gebaut …« Er zeigte auf die Stelle. »Irgendwann hat der obere Hang nachgegeben, ist abgerutscht und hat sie unter sich begraben.«
    Schüsse fielen, diesmal näher als zuvor.
    »Schnell, mir nach!« Chel drang ins dunkle Innere der Baumkrone vor. Im Schein der schwankenden Taschenlampe kletterten Greg und Alexej über primitive, bemooste Rindenstufen bis zu einer knapp anderthalb Meter hohen Lücke im Wald. Geduckt folgten sie Chel durch einen dunklen, feuchten Gang voller tropfender Wurzeln und unerwarteter Hindernisse. Dann gelangten sie zu einer großen, vorspringenden Wurzel und krochen durch ein
Gewirr von Pflanzenstängeln, bis Chel im Schatten eines geborstenen Felsens haltmachte, der zu einer Gruppe aufgereihter Steine gehörte. Hinter ihnen fielen Schüsse, und es wurde laut gerufen. Chel zeigte, und Greg nickte, bedeutete Alexej und den anderen, in Deckung zu bleiben und sich entlang der Steine zu verteilen. Greg zog die Gustav 9mm, überprüfte sie, und als alle in Position waren, richtete er sich auf, dicht an den rauen Stein gedrückt, und blickte hinüber.
    Die Schüsse kamen von einem etwa fünfzehn Meter hohen Felsen, dessen Fuß von einer gewaltigen knorrigen Wurzel umschlungen war. Sechs oder sieben Brolturaner in Tarnuniformen hatten die Verteidiger umzingelt. Und einer von ihnen entdeckte unglücklicherweise Greg, schwenkte das Gewehr herum und begann zu feuern. Greg duckte sich, die Energiestrahlen schlugen in die andere Seite des Steins ein, und es wurde laut gerufen.
    »Alexej, gehen Sie zum anderen Ende der Steinreihe«, sagte er. »Ich lenke die Schützen ab …«
    »Das ist doch idiotisch«, knurrte Alexej.
    »Hey, ich musste die Uni besuchen, um ein solcher Idiot zu werden! Machen Sie schon …«
    Alexej schüttelte den Kopf, brummte etwas auf Russisch, packte einen Mann bei der Schulter und versetzte ihm einen Schubs Richtung Ende der Steinreihe. Greg spähte über den Felsen hinweg und feuerte mehrmals, dann ging er, gefolgt von Chel, den Weg zurück, den sie gekommen waren.
    »Freund Gregory, ich kann den Gegner ebenfalls ablenken«, sagte der Uvovo, hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand. Dann schnellte er zu Gregs Verblüffung aus der Hocke hoch, hob mit den Füßen ab und schleuderte mit einer fließenden Bewegung den Stein.

    Ein Schmerzensschrei war zu hören. Greg wölbte anerkennend die Brauen, dann richtete auch er sich auf, gab ein paar Schüsse ab und duckte sich wieder.
    »Links ist einer, einer in der Mitte und einer rechts.«
    Chel schüttelte den Kopf.