Wakolda (German Edition)
in Luft aufzulösen. Dieses Mal reichte es, um im Zimmer des neuen Gastes alles genau unter die Lupe zu nehmen, denn ihr Vater saß mit José im Esszimmer und klärte mit diesem die Formalien. José hatte sich am Morgen darüber gewundert, dass man ihm das Frühstück in einem Raum des linken Hausflügels mit Blick auf den Wald servierte, während die Familie im rechten Flügel frühstückte, wo man auf den Nahuel Huapi hinaussah. Noch größer war sein Erstaunen, als ihm Luned einen Schlüsselbund überreichte und erklärte, damit könne er das Haus über eine Seitentür betreten. So konnten gut mehrere Tage vergehen, ohne dass er Lilith oder ihre Familie zu Gesicht bekam. Diese Vorkehrungen galten zwar dem Schutz seiner Privatsphäre; von dem, was er sich vorgestellt hatte, war dies aber meilenweit entfernt. Er wollte schließlich dabei zusehen, wie Evas Schwangerschaft voranschritt, und ihre drei Kinder im Auge behalten.
Wozu das alles?
, fragte er sich mitunter selbst.
Weshalb eigentlich musste er alles haarklein dokumentieren?
Er wusste es nicht zu sagen.
Bis jetzt war es nicht mehr als ein Zeitvertreib gewesen, der ihn zudem noch vergessen ließ, dass er Buenos Aires fluchtartig hatte verlassen müssen und sein früheres Leben wohl kaum je würde wieder aufnehmen können. Während er sich nun mit Enzo besprach, inspizierte Lilith in seinem Zimmer die Schreibtischschublade. Ein Siegelring aus Silber, der einen Totenkopf und andere ihr unbekannte Symbole zeigte – sie erkannte weder das im Flamboyantstil gehaltene Hakenkreuz noch die Runenschriftzeichen –, fiel ihr sofort ins Auge. Auf der Innenseite war etwas auf Deutsch eingraviert. Hastig schob sie den viel zu großen Ring auf den Finger. Dann war da ein schwarzes Notizheft, darauf ein Dolch in einem Lederetui. Mit zitternden Händen zog sie ihn heraus; die Klinge funkelte in der Sonne, kleine Lichtreflexe flohen über die Zimmerwände. Die eine Seite zeigte ein weiteres Emblem, mit dem sie nichts anfangen konnte. Lilith dachte keinen Moment mehr daran, dass sie in fremden Dingen wühlte, und schlug das schwarze Heft auf. Seitenweise Notizen, Ziffern, Listen, Zeichnungen. Abbildungen über Abbildungen: Säuglinge und Kinder, denen Pfeile aus Augen, Kopf, Gliedmaßen und inneren Organen schossen. Auf einer Seite zwei am Rücken zusammengewachsene Körper. Sie blätterte weiter nach hinten. Plötzlich hielt sie inne, sie traute ihren Augen nicht. Da war doch ihre Mutter dargestellt, nackt, mit Siebenmonatsbauch. Die Zeichnung war nicht besonders gelungen, wies aber Übereinstimmungen auf, die keinen Zweifel ließen. Es war eindeutig ihre Mutter, daneben verschiedene Ziffern: Größenangaben, Gewichtschätzungen, Angaben zum Stand der Schwangerschaft.
Dann las sie:
Homo arabicus
.
Auf der nächsten Seite tauchte ihr Vater auf, daneben ihre Brüder, dazu wieder verschiedene Ziffern und Maßangaben.
Darüber stand:
Homo syriacus
.
Sie selbst kam als Letzte, dafür mit sehr viel mehr Detailangaben. Beinahe jeder Knochen war beziffert, der Schädelumfang angegeben, dazu Notizen auf Deutsch. Zahlen über Zahlen, Summen und Endsummen, eine ganze Liste von Krankheitsbezeichnungen, in der einige Begriffe auf Spanisch eingefügt waren:
neumonía, asma, gripes, anginas, infecciones, sinusitis crónicas
… Ihr Magen zog sich zusammen, das Herz klopfte bis zum Hals. Sie durfte auf keinen Fall Spuren hinterlassen. Schnell legte sie Dolch, Siegelring und Heft zurück, vergewisserte sich, dass alles unangetastet wirkte, und schlüpfte durchs Fenster hinaus auf das Dach. Auf dem Fenstersims ihres Zimmers angelangt, merkte sie, dass sie ganz weiche Knie hatte. Ihr wurde übel. Eins war klar: Sie durfte keinen Ton sagen. Sonst würde es Fragen geben:
Wie war dieses Heft in ihre Hände gelangt?
Wie war sie in das verschlossene Zimmer gekommen?
Die Strafe würde auf dem Fuß folgen, ein Monat Stubenarrest. Aber viel schlimmer noch: Bestimmt würde der Fremde seine Sachen packen müssen. Egal ob er nun Arzt, Tierarzt oder Anthropologe war … Man würde bestimmt nicht zulassen, dass er sie alle als Studienobjekte benutzte. Außerdem waren sie keine Tiere. Und sein Spezialgebiet waren Kühe. Auch wenn sie ihm das Geld zurückgeben mussten, mit dem sie gerade die Schulden der letzten Monate abbezahlt hatten – die Eltern würden verlangen, dass er abreiste. Dieses Mal musste sie den Mund halten. Und das tat sie auch. Allerdings sah sie José von nun an mit anderen Augen
Weitere Kostenlose Bücher