Wakolda (German Edition)
und sog die duftende Waldluft bis tief in die Lungen ein. Wie viele wären wohl bereit, ihn persönlich zu massakrieren, wenn sie erfuhren, was für ein geruhsames Leben er hier führte? Dass er bald nur noch auf der Flucht sein und bis zum Tag seines Todes keine Ruhe mehr finden würde, ahnte er nicht. Ebensowenig konnte er wissen, dass man ihn in den nächsten Jahren durch ganz Südamerika jagen und ihm ständig auf den Fersen sein würde ... Das erste Mal war es ein Kommando von Auschwitz-Überlebenden in einem Hotel des Dreiländerecks zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay. Das zweite Mal im Urwald des Alto Paraná, wo ihm ein Abenteurer nachsetzte, der sich in den Nachkriegsjahren darauf spezialisiert hatte, Nazis zu liquidieren. Noch weniger konnte er sich vorstellen, dass er einmal völlig verarmt und vereinsamt sterben würde, ertrunken beim Baden, am Strand von Bertioga in der Nähe von São Paulo, noch dass seine sterblichen Überreste – gerade einmal ein Schädel, sieben Zähne und ein paar Knochen – exhumiert und an ein medizinisches Institut in São Paulo gehen würden. Das Einzige, was er sich ausrechnen konnte, war, dass man ihm keinen schnellen Tod gönnen würde. Nach etwa einem Kilometer kamen ihm Tomás und Lilith mit Schulranzen auf den Rücken auf ihren Fahrrädern entgegengesaust. Hastig verscheuchte er die trüben Gedanken. Die Kinder jauchzten und schrien, traten wie wild in die Pedale und gewannen auf dem abschüssigen Weg mit jedem Meter an Tempo. Als Lilith ihn erkannte, bremste sie, wartete ab, dass sich der Bruder etwas entfernte, und kam langsam auf ihn zugeradelt.
»Was ist mit Ihrem Wagen?«
»Ich wollte gern zu Fuß gehen.«
Lilith kickte einen Kiesel weg. Sie wirkte wie ausgetauscht, keine Spur mehr von ihrer kessen Unverfrorenheit. José schaute auf die Verbände an ihren Knien.
»Hast du dir wehgetan?«
»Ein bisschen.«
»Mach das bloß nicht noch mal.«
»Was denn, auf einen Baum klettern?«
»Herumspionieren«, antwortete er ohne weitere Erklärung.
Halt bloß die Klappe
, dachte Lilith,
stell jetzt bloß keine Fragen
. Dann aber hörte sie sich sagen:
»Wieso hatte der Mann das ganze Gesicht verbunden?«
»Weil man ihn operiert hat.«
»Wer?«
»Der Nachbar.«
»Ist der Arzt?«
»Chirurg.«
»Und diese ganzen Leute, die ihn besuchen kommen ...«
»Sind Patienten.«
Das war das Spiel: Sie fragte, er antwortete.
Als wären sie alle, Lilith und ihr Umfeld, so harmlos, dass er getrost die Wahrheit erzählen konnte.
Am späteren Nachmittag lief ihm Lilith im Ort erneut über den Weg. Er saß in einem Lokal, umringt von Männern, die ihm ehrfürchtig lauschten. Lilith und Tomás hatten in jeder Straße Zettel an Laternenpfähle geklebt, um Werbung für die Pension zu machen. Lilith hielt an, um sich genauer anzusehen, was José da trieb. Tomás fuhr weiter und rief, sie solle endlich kommen, doch Lilith stand da wie angewachsen. José schien alle in Bann geschlagen zu haben. Sogar der Kellner war nähergetreten und hing an seinen Lippen. Auf einmal lachten alle. Dann setzte José den Hut auf und kippte seinen Sherry hinunter. Die Männer erhoben sich, auch die Frauen verabschiedeten sich von ihm, und er trat mit einem jüngeren blonden Mann hinaus auf die Straße. Lilith duckte sich, nahm ihr Fahrrad und folgte den beiden in einigem Abstand. Zwei Häuserblöcke weiter betraten die Männer eine Zoohandlung, in der auch die Tierarztpraxis der Stadt untergebracht war. Der Blonde benahm sich gegenüber José übertrieben respektvoll, geradezu unterwürfig; selbst auf die Entfernung war seine Angst kaum zu übersehen. Lilith lehnte das Fahrrad gegen ein Auto und trat an das Ladenschaufenster heran. Gerade schüttelte José dem Ladenbesitzer die Hand, um ihm dann in die hinteren Räume des Geschäftes zu folgen. Schnell schlüpfte Lilith durch die Ladentür hinein. Ein paar Hamster rannten wie aufgezogen in ihren Laufrädern herum, dazu gab es unzählige Käfige mit Hundewelpen, Katzen, Kaninchen und Kanarienvögeln. Sogar ein Aquarium. Der Laden wirkte bescheiden, aber reinlich. Aus dem Hintergrund drangen Stimmen, sie sprachen deutsch. Lautlos huschte Lilith auf den Flur.
Du solltest jetzt besser gehen
, befahl sie sich selbst, schlich aber trotzdem weiter bis zu der Tür, woher die Stimmen kamen; sie stand einen Spaltbreit offen.
Gerade nahm José einen Tiefkühlschrank in Augenschein.
»Heute Nacht kommt die Hälfte raus«, hörte sie den Besitzer
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