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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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einfing, an Atemwegs- und Nasennebenhöhlenentzündungen erkrankte. Tomás und der Kleine hingegen wurden nie krank. Dabei waren alle drei Schwangerschaften völlig normal verlaufen. Lilith fühlte sich geschmeichelt, dass José alles über sie wissen wollte: wie viel sie wog, wie groß sie war …
    »Ein Meter zweiunddreißig«, erklärte die Mutter.
    »Dreiunddreißig«, verbesserte Lilith eifrig.
    José wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und schmunzelte, wandte sich wieder Eva zu.
    »Was hat sie bei ihrer Geburt gewogen?«
    »Sagten Sie nicht, Sie sind Tierarzt?«, erwiderte Eva irritiert.
    José suchte den Blick seiner kleinen Komplizin. Was hatte sie noch alles über ihn erzählt?
    »Ich bin Arzt. Tierarzt. Aber ich habe auch Anthropologie studiert.«
    »Und was liegt Ihnen mehr? Tier oder Mensch?«
    »Ach wissen Sie, ich mache da keinen großen Unterschied.«
    Er spülte den kleinen Scherz mit Wein hinunter.
    Eva und Enzo tauschten Blicke. Die vielen akademischen Titel schüchterten sie etwas ein.
    »Und was ist Ihr Spezialgebiet?«
    »Rinder. Es hat sich noch viel zu wenig herumgesprochen, wie sehr sich die Reproduktion und Aufzucht von Kühen durch die Gabe von Hormonen verbessern lässt.«
    »Und was sind das für Hormone?«
    »Wachstumshormone.«
    »Dann kriegt jede Kuh Hormone?«, staunte Lilith.
    »Nur die trächtigen. Man stimuliert die Produktion eines bestimmten Eiweißes, das der Körper selbst herstellt – nur in geringerer Menge. Die Genetik ist eine sehr komplexe Wissenschaft, die sich aber mit einfachen Worten erklären lässt. Zuerst einmal geht es darum, den
Gründereffekt
aufzuschlüsseln. So nennen die Genetiker das Vererbungsmuster, das erkannt werden muss, damit eine Rasse verbessert werden kann.«
    »Werden Sie während Ihres Aufenthaltes bei uns hier auch arbeiten?«
    »Gut möglich.«
    José musterte Evas Bauch und verkniff sich einen Kommentar. Wenn ihn sein medizinischer Blick nicht trog – und immerhin hatte er unzählige Male den Stand einer Schwangerschaft durch bloßes Abtasten bestimmt –, war es nicht mehr so lang hin, wie sie annahm. Mehr noch: Er witterte Beute. Seit dem Krieg hatte er nicht mehr mit Zwillingen zu tun gehabt.
    In der Nacht lag ihm das Essen schwer im Magen. Im Traum erschien ihm der Führer in einem finsteren unterirdischen Gang, er lebte in einem Bunker tief unter der Erde und trug einen Kaiserbart. Als José sah, dass der Führer auf dem Absatz kehrtmachte, rief er ihm nach, flehte ihn an, nicht zu gehen, schwor ihm, er würde ihm überallhin folgen, bis in die geheimen Städte des Himalaya, in die unterirdischen Schlupfwinkel der Antarktis … Der Führer aber wandte ihm den Rücken zu und ging langsam davon. Er drehte sich nicht mehr nach ihm um. José wachte auf und rang nach Luft.
    Immer wieder wurde behauptet, der Führer sei gar nicht in seinem Berliner Bunker gestorben, sondern mit einem U-Boot abgetaucht und hocke in irgendeiner Oase in der Nähe des Polarkreises. In den Winterschlaf gefallen, weder tot noch lebendig, wie Barbarossa, König Arthur, Baldur oder Wotan. Raben wachten über seinen Schlaf, bis das arische Volk wieder nach ihm schrie. Es hieß auch, der Krieg sei noch nicht vorbei, werde nie vorbei sein. Als Wissenschaftler glaubte José aber weder an Wunder noch an Alchemie – oder sonstige Geheimlehren. Für ihn gab es weder heilige Berge noch verborgene Städte, in die sich die Überlebenden zurückgezogen haben konnten. Das menschliche Schicksal entschied sich einzig und allein auf dem Boden dieser Erde. José nahm ein Schlafmittel, legte sich stockgerade auf den Rücken und schloss die Augen.

6
    Lilith kletterte vom Dach aus durchs Fenster in Josés Zimmer. Sie kannte das Haus wie ihre Westentasche. Die Großmutter hatte ihr alle Geheimgänge und Abkürzungen verraten. Sie wusste zum Beispiel, dass der Keller mit dem Waschraum über ein Tunnelsystem verbunden war; allerdings war der Tunnel schon seit Jahren zugeschüttet, und niemand hatte sich jemals darum gekümmert, ihn wieder freizuschaufeln. Bei einer ihrer Erkundungsgänge hatte sie entdeckt, dass man auf dem Dachvorsprung entlangbalancieren konnte. Auf diesem Weg gelangte man problemlos in alle Zimmer, selbst wenn sie abgeschlossen waren. Außerdem hatte sie herausgefunden, dass die Schlösser klemmten und die Türen von außen nicht so schnell zu öffnen waren. So hatte Lilith bei ihren heimlichen Besuchen genug Zeit, zum Fenster zu gelangen und sich anschließend

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