Wakolda (German Edition)
über die Seitentür aus dem Haus, stürmte auf den Lieferwagen zu, in dem Cumín, Yanka und seine Söhne immer noch ausharrten.
Die Scheinwerfer des Wagens erfassten sie; sie bekam einen Hustenanfall und rang nach Luft, stolperte weiter und hielt dabei Wakolda in die Höhe, zum Zeichen, dass sie bereit war für den Geiselaustausch. Schon kam Yanka ihr entgegengelaufen, Herlitzka mit einer Hand um den Hals gepackt.
»Du hast gesagt, dass sie zaubern kann!«, rief Lilith ihr entgegen. »Dass sie meine Wünsche erfüllt.«
»Gib sie her.«
»Keinen einzigen Wunsch hat sie mir erfüllt!«
»Dann hab ich dich eben angelogen.«
»Und was hatte sie da in ihrem Bauch drin?«
Yanka horchte auf: Lilith hatte in der Vergangenheit gesprochen. Sie riss Lilith die Puppe aus der Hand, sah die genähten Stiche am Bauch und riss den Stoff auf. Eine Handvoll hellblauer Glasaugen fiel heraus und verteilte sich im Schnee. Lilith hielt erschrocken inne, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf Wakolda, die mit einem klaffenden Loch im Bauch und von frischem Schnee bedeckt vor ihr auf dem Boden lag. Ein brutaler Anblick. Schnell bückte sie sich und hob die Puppe auf. Yanka hatte sich abgewandt und sah zum Lieferwagen, aus dem Lemún und Nahuel heraussprangen. Sie drehte sich wieder zu Lilith und schrie:
»Was habt ihr damit gemacht?«
Lilith blieb ihr die Antwort schuldig. Vom See erklang Motorengeräusch. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte durch die Büsche in Richtung Ufer, Yanka und ihre Brüder hinterher. Doch Lilith konnte sie abhängen, sie kannte jeden Stein und jeden Ast, während die anderen auf dem zugeschneiten Gelände schlitterten und stolperten. Wakolda allerdings wurde von den Dornen unterwegs endgültig zerfleddert. Lilith rannte, was das Zeug hielt, und zählte die Sekunden, die bis zum Abheben des Wasserflugzeugs blieben. Am See angekommen – Yanka und die Brüder waren noch ein ganzes Stück hinter ihr –, warf sie sich der Länge nach auf den Steg, um von dem Sog der startenden Maschine nicht ins eisige Wasser gerissen zu werden. Kurz darauf kamen die anderen drei angerannt und blieben keuchend stehen, das Flugzeug glitt vom Nachbargrundstück auf den See hinaus, beschleunigte und hob ab. Lilith rappelte sich vom Boden auf, und alle vier standen sie mit offenen Mündern da und schauten dem seltsamen Flieger mit den Kufen hinterher, der jetzt einen Kreis über ihnen zog.
Lilith wusste, dass er in diesem Augenblick zu ihr hinuntersah. Und dass er dabei lächelte.
Sorgfältig hatte er die Puppe mit dem schelmischen Blick auf dem Bett drapiert, in dem er sieben Monate lang geschlafen hatte.
»Lass sie schön da sitzen und pass auf, dass niemand sie anrührt.«
Nicht nur diese Puppe sollte ein Geschenk sein. Er hatte bereits weitere Präsente nach Buenos Aires, Córdoba und Santa Fe verschickt. Sogar nach Paraguay. Alle waren sie im Speisesaal der Pension in Seidenpapier verpackt worden. Statt zum Lieblingsspielzeug unschuldiger kleiner Mädchen wurden die ersten Arierpuppen zu Symbolen des nationalsozialistischen Exilwiderstands.
»Wenn sie kommen, sag ihnen, ich hätte ihnen diese Puppe hier als Geschenk dagelassen.«
Er führte Lilith an den Türrahmen und lehnte sie an die Messlatte. Mit dem Dolch ritzte er, mehrere Zentimeter über der ersten, eine letzte Markierung ins Holz.
»Du bist jetzt mein Werk«, sagte er und musterte sie ein letztes Mal voller Befriedigung.
Lilith stand da, ihre ramponierte Wakolda im Arm. José lächelte ungläubig. Sein kleines Zirkusmädchen hing trotz allem noch an ihm.
»Keine Sorge, du wirst mich vergessen.«
Nach etwa hundert Metern tauchte das Wasserflugzeug im Schrägflug in eine Wand aus Nebel und Schneetreiben ein und wurde von ihr verschluckt. Lilith stellte sich vor, wie José auf der anderen Seite der Wand in einen blauen Himmel hineinflog.
Liebe ist ein Verbrechen, das sich nicht ohne einen Komplizen begehen lässt
. Zwar sollte sie diesen Satz in der ganzen Tiefe seiner Bedeutung erst viele Jahre später erfassen, doch er hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Sie war Josés Komplizin geworden, so viel stand fest. Und dieses Geheimnis sollte sie schlimmer quälen als jedes andere in ihrem Leben.
ARGENTINISCHE LITERATUR BEI WAGENBACH
Lucía Puenzo Das Fischkind
Roman
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