Wakolda (German Edition)
PRIMO CAPRARO
Viele von ihnen hielten den Arm mit flacher Hand schräg von sich gestreckt. Auf der einen Seite wehte eine argentinische Fahne, auf der anderen eine rote Fahne mit Hakenkreuz.
»Gibt es deine Schule noch?«
»Sie wurde während des Krieges geschlossen und vor zwei Jahren wiedereröffnet. Einige von denen, die du auf dem Foto siehst, werden bald deine Lehrer sein.«
»Ich soll auf diese Schule?«
»Ja.«
»Ich kann doch gar kein Deutsch.«
»Das macht nichts, es gibt zwei Klassen pro Jahrgang. In einer wird Spanisch gesprochen.«
»Ist Papa auch auf dieser Schule gewesen?«
»Dein Papa ist ja kein Deutscher.«
»Ich auch nicht.«
Lilith kramte in den Fotos, bis ihr eins von den wenigen in die Hände fiel, die ihre ganze Familie mit den Großeltern zusammen zeigten. Alle lächelten in die Kamera, nur ihr Vater nicht. Als Lilith den Blick vom Bild hob, hatte die Mutter die Stirn in Falten gelegt.
»Lange bevor du geboren wurdest, hat dein Vater meinem Vater erklärt, dass seine Kinder Argentinier sein würden. Und dass man mit ihnen die Sprache des Landes zu sprechen hätte.«
»Und dann?«
»Haben sie uns rausgeschmissen.«
»Euch alle?«
»Deinen Vater. Ich sollte mich entscheiden.«
Eva legte die Fotos und Hefte zurück in die Kiste.
»Und?«, flüsterte Lilith.
»Ich bin mit ihm gegangen.«
»Wirklich?« Lilith war beeindruckt.
Sie sah ihre Mutter plötzlich in neuem Licht – als eine mutige Kämpferin, die für sich einstand. Jetzt wurde auch klar, was es mit der Geringschätzung auf sich hatte, mit der die Großeltern den Vater jahrelang behandelt hatten. Und mit der schlechten Laune, die Eva oft gehabt hatte, wenn die Sommerferien anstanden. Jahrein, jahraus hatten sie den Sommer mit den Großeltern unter einem Dach verbracht, und immer hatte Spannung in der Luft gelegen. Bevor sie Lilith unter die Dusche schickte, nahm Eva ihr noch ein Versprechen ab:
»Die Sache bleibt aber unter uns, klar?«
Lilith schwor, sie würde schweigen wie ein Grab. Doch ihr Versprechen hielt kaum länger als eine Stunde, dann wussten Tomás und Tegai bereits Bescheid. Auch dem Deutschen hätte sie es brühwarm weitererzählt, doch sie hatte keine Gelegenheit. Ihr Vater hatte ihn an der Haustür empfangen und gleich durch das frisch gelüftete Haus ins Wohnzimmer geführt. Tomás hatte eben Holz im Kamin nachgelegt, und aus der Küche drang der Duft von gebratenem Fleisch, bei dem selbst einem Vegetarier das Wasser im Mund zusammenlief. José war bester Stimmung. Er strich Tomás über den Kopf und trat ans Fenster, um den paradiesischen Ausblick zu genießen.
»Willkommen«, sagte Eva auf Deutsch.
Sie wurde rot und verstummte. Das Haus ihrer Kindheit weckte in ihr sehr viele Erinnerungen, und es kam vor, dass sie unwillkürlich in die Sprache verfiel, mit der sie aufgewachsen war. Rasch drückte sie Tegai den Blumenstrauß in die Hand und servierte den Tee, während José strahlend durchs Wohnzimmer spazierte. Am Abend zuvor hatte ein kurzer Anruf in der Hauptstadt genügt, schon lief alles wie geschmiert. Seine Kontaktleute wussten Bescheid, und bis er entschieden hatte, ob er weiterreiste oder lieber eine Weile in Bariloche blieb, standen ihm hier alle Türen offen. Er hatte alle Einladungen ausgeschlagen und sich nicht einmal die Mühe gemacht, seinem deutschen Bekannten abzusagen, der ihm Tisch und Bett bereitet hatte. Er zog es vor, die Nacht in einem Hotel im Stadtzentrum zu verbringen und das Abendessen inmitten lärmender Touristen einzunehmen. Noch vor zehn Uhr zog er sich in sein Zimmer zurück. Sein Überlebensinstinkt riet ihm, niemanden zu unterrichten, solange er noch keinen weiteren Plan gefasst hatte. Er schuldete niemandem eine Erklärung dafür, weshalb er lieber bei Fremden unterkam (und dafür zahlte), wenngleich viele sich durch seinen Besuch geehrt gefühlt hätten.
»Es ist erstaunlich«, sagte er zu Enzo. »Ich habe das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.«
Eva reichte ihm eine Tasse Tee. Er hatte reichlich Parfum aufgetragen, war frisch rasiert, trug einen schwarzen Anzug und gewienerte Schuhe. Eine makellose Erscheinung. Er sei von der Stadt begeistert, erklärte er, sie habe genau die richtige Größe; und auch die Menschen und die Landschaft sagten ihm zu. Er könne sich sehr gut vorstellen, an einem solchen Ort zu leben.
»Und erst der See! An diesem See blühe ich einfach auf.«
Eva lächelte, ihr ging es genauso.
»Gestern habe ich meiner Frau am Telefon
Weitere Kostenlose Bücher