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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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wie eine Ameise. Um so einen dicken Stamm zu umarmen, brauchte es zwölf Menschen. Manche der Bäume waren über dreitausend Jahre alt.
    Regelrechte Denkmäler sind das
, dachte José beeindruckt.
    Der Gedanke, dass diese Bäume in ihrer Gattung ganz und gar rein waren, berührte ihn tief; er legte die Hände an einen besonders alten Stamm und schloss die Augen. So stand er da, bis der irritierte Enzo ihn nach einer Weile bat, doch wieder einzusteigen – schließlich wollten sie noch am Abend in Trelew ankommen. Bis zu dem Dörfchen Los Mártires, wo sie Benzin nachfüllten und sich die Beine vertraten, fuhren sie durch. Nachdem Enzo in Paso de Indios, wo die argentinischen Truppen einst die Tehuelche-Indianer massakriert hatten, mehrfach weggenickt war, übernahm José das Steuer. Die Wälder von El Bolsón lagen lange hinter ihnen, die Straße nach Trelew führte sie durch menschenleeres Wüstengelände, die eintönige Landschaft wirkte einschläfernd. Auch Lilith fielen die Augen zu, sie streckte auf dem Rücksitz alle viere von sich und verschlief die letzten sechs Stunden der Fahrt komplett. José wachte im Rückspiegel über den unschuldigen Körper seiner kleinen Freundin und malte sich aus, wie er sie einfach mit sich nehmen würde. Als in der Pension die Telefone schrillten, die ihm die Nachricht übermitteln wollten, die gerade im ganzen Land verbreitet wurde, hatte José Bariloche bereits mehrere hundert Kilometer hinter sich gelassen und schloss mit Enzo Wetten darauf ab, wie viele fertige Puppenköpfe sie in Trelew vorfinden würden. Noch am Abend wollten sie sie besichtigen.
    In der Haupthalle der Spielwarenfabrik, die normalerweise weniger hochwertige Ware für den nationalen Markt herstellte, warteten fünfzig Paar Arme und Beine sowie fünfzig Köpfe und fünfzig Rümpfe auf sie. José hatte für die Produktion eine so hohe Summe zur Verfügung gestellt, dass man erstmals ein spezielles Importporzellan hatte verwenden können. Außerdem waren im Vertrag alle weiteren Materialien und die Vorgaben für die Verarbeitung exakt aufgeführt gewesen. Das Ergebnis ließ sich sehen: Die Haut der Puppen wirkte glatt und rosig, die Farben leuchteten, alles war bis ins feinste Detail durchgearbeitet: Hautfalten, Fingernägel, Ohrläppchen, Lippen, Brustwarzen … Die Einzelteile, die auf einem langen Arbeitstisch ausgebreitet lagen, wirkten verblüffend echt.
    Nachdem Lilith den etwa zwanzig Arbeiterinnen eine Weile fasziniert beim Schleifen der Porzellankörper zugesehen hatte, wechselte sie zur nächsten Station. Zwei Männer mit Asbesthandschuhen holten die kochendheißen Köpfe mithilfe langer Metallzangen aus den Gussformen und steckten sie zum Aushärten auf spezielle Holzhalterungen. Lilith schritt die fünf langen Reihen ab und inspizierte die Köpfe mit den noch leeren Augenhöhlen. Die Puppenteile glichen sich wie ein Ei dem andern und waren absolut makellos. Dahinter beugten sich ein paar Frauen über Nähmaschinen und fertigten ebenso ununterscheidbare kleine Kleidchen an, die in Schnitt und Farbe an deutsche Uniformen erinnerten. In einer dunklen Ecke der Halle dämpften zwei Arbeiterinnen die blonden Haarschöpfe, anschließend knüpften andere sie per Hand an Nylonnetze. Die ausnahmslos blond gefärbten Schöpfe lagen ordentlich gestapelt in einem Korb. José machte ein zufriedenes Gesicht, die Angestellten hatten beste Arbeit geleistet. Allerdings hatte er sich die Sache auch einiges kosten lassen. Schließlich schleppte der Fabrikherr eine Holzkiste voller kleiner, runder, hellblauer Glasknöpfe an.
    »Guck mal, das sind die Augen«, wandte sich José an Lilith und legte ihr eine Murmel in die Hand. Ein Auge mit fein gearbeiteter Pupille, in dem Glas waren winzige Luftbläschen eingeschlossen. Das Blau war perfekt, es war genau die Farbe, nach der er so lange gesucht hatte. Der Fabrikherr ließ sich von einer Arbeiterin einen Kopf reichen und legte alle sechs Teile für eine Puppe zurecht.
    »Wie wär’s? Wollen Sie die erste zusammenbauen?«, schlug er José vor.
    Der legte mit feierlicher Miene sein Jackett ab, krempelte die Hemdsärmel hoch und nahm seine Brille aus dem Lederetui. Alle hatten sich um ihn geschart und hielten den Atem an. Arme, Beine, dann der Kopf. Wie vorgesehen, ließen sich die Teile mühelos montieren. Es wurde geklatscht, dann holte der Fabrikherr zwei Flaschen von dem feinen patagonischen Honiglikör hervor, den er für besondere Anlässe bereithielt.
    »Sie werden

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