Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
Vom Netzwerk:
ins Kinderzimmer gab es Gerangel zwischen dem Jüngsten und seinem großen Bruder, der ihm die Flöte abnehmen wollte. Der Kleine trötete nun erst recht, so laut er konnte.
    »Jetzt ist aber Schluss hier!«, rief José streng, und sie spurten auf Anhieb. Seine Autorität war wiederhergestellt. Die Szene in dem düsteren Flur, er umringt von Enzos Kindern, rief unwillkürlich Bilder aus seinen besten Zeiten in ihm wach. Diese Zeiten waren unwiederbringlich vorbei, daran bestand kein Zweifel mehr. Rasch ließ er die Jungs sich bettfertig machen. Tomás hatte schon Haare unter den Achseln, dem Kleinen musste er noch beim Ausziehen helfen. Es war eine Ewigkeit her, dass er einen solch zerbrechlichen kleinen Körper unter seinen Händen hatte, und unbeeindruckt davon, dass der Junge vor Kälte zitterte, als er ihm endlich den Schlafanzug überzog und seine Füße in ein Paar Flanellsocken stopfte, zog er die Prozedur absichtlich in die Länge.
    »Vorlesen!«, befahl der Kleine anschließend und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ein vollgestopftes Bücherregal. Die Geste war so vage, dass José davon ausging, dass er selbst eins aussuchen sollte. Er ließ den Blick über die Buchrücken gleiten. Da war es ja schon. Er schlug die erste Seite auf. Eine Zeichnung zeigte einen Flötenspieler mit einer Schar Kinder im Schlepptau:
    »Vor langer Zeit wurde die Stadt Hameln von einer fürchterlichen Rattenplage heimgesucht. Doch eines schönen Tages ließ sich ein Flötenspieler sehen und bot den Bürgern der Stadt an, sie gegen ein gewisses Geld von den Ratten zu befreien. Die Bürger gingen den Handel ein, der Flötenspieler begann zu spielen. Die Ratten kamen aus ihren Löchern gekrochen und liefen der Musik hinterher. Der Flötenspieler aber verließ die Stadt, steuerte auf den Fluss zu und ließ die Ratten darin ertrinken. Nach vollbrachter Arbeit forderte der Mann seinen Lohn ein, doch die Bürger von Hameln verweigerten ihn ihm. Wütend sann er auf Rache. Als die Bürger gerade ihren Kirchgang verrichteten, begann er erneut zu spielen …«
    José hob den Blick. Die Kinder waren eingeschlafen. Er las die Geschichte trotzdem zu Ende – er konnte es nicht ausstehen, wenn etwas nicht ordentlich zu Ende gebracht wurde:
    »Nun aber waren es die Kinder der Stadt, die der Musik nachliefen und dem Flötenspieler bis aus der Stadt hinaus und in eine Höhle folgten. Sie wurden nimmer mehr gesehen.«
    Arglos hatte der Jüngste eine Hand auf sein Bein gelegt. Er hatte weiße, auf Kalziummangel hindeutende Streifen unter den Fingernägeln und einen wundgelutschten Daumen, wie José feststellte.
    Was habe ich in Paraguay oder Brasilien verloren?
, ging es ihm plötzlich durch den Kopf.
    Kuba und Ecuador kamen ohnehin nicht in Betracht. Er hasste tropisches Klima; Strand, Sand und Meer (wo er viele Jahre später den Tod finden sollte) waren nichts für ihn. Am allermeisten aber verabscheute er Armut und Elend, weshalb eine ganze Reihe anderer Länder der Dritten Welt nicht infrage kam. In solchen Momenten friedlicher Ruhe beschlich in manchmal plötzlich die Angst.
    Er musste versuchen, seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken.
    Hätte er damals von der Festnahme Eichmanns gewusst, hätte er die Sache mit den Puppen gar nicht so weit vorangetrieben. Die Entführung jedoch war eine geheime Operation; fünf Tage lang, bis sie sicher in Israel gelandet waren, drang nichts an die Öffentlichkeit. Einen Tag zuvor erhielt man in der Pension den lange erwarteten Anruf von der Puppenfabrik: Die ersten Exemplare waren fertig. Noch beim Abendessen beschlossen sie, am nächsten Morgen aufzubrechen und sich alles anzusehen.
    Sie brachen im Morgengrauen auf, um es bis zum späteren Abend nach Trelew zu schaffen. Enzo saß am Steuer und war bester Stimmung; zu jedem Vulkan, jedem Dorf und jedem See, an dem sie vorbeikamen, hatte er eine Geschichte parat. Lilith, die keine Ruhe gegeben hatte, bis man ihr erlaubte, zwei Tage in der Schule zu fehlen, hatte es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht. Eigentlich war keine Pause vorgesehen, doch dann machten sie kurz hinter Esquel, nahe der chilenischen Grenze, mitten in einem der großen Nationalparks, schließlich kurz Halt. José hatte sich sagen lassen, dass dort die größten und ältesten Bäume der Welt wuchsen – die Fitzroya Cupressoides, die Patagonische Zypresse. Direkt vor den mächtigen Riesen zu stehen war überwältigend. Selbst neben einem verhältnismäßig kleinen Exemplar wirkte Lilith

Weitere Kostenlose Bücher