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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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sehen. Morgen früh sind sie alle fertig zusammengebaut«, versprach er mit großer Geste.
    »Ich nehme sie lieber so mit«, entgegnete José schnell.
    »Wie bitte? Aber Sie können doch nicht …«, protestierte der Mann in leicht gekränktem Ton.
    »Die Einzelteile sind einfacher zu transportieren.«
    »Ganz wie Sie wünschen. Wir müssten allerdings noch die Feinheiten abstimmen.«
    Er deutete auf die zehn Arbeiterinnen, die sich unter dem großen Fenster über den langen Arbeitstisch beugten. Jede von ihnen hatte einen feinen Pinsel in der Hand und ein Metallband um den Kopf, an dem eine Lupe befestigt war. So arbeiteten sie hochkonzentriert an Lippen, Augenbrauenbögen und Wimpern.
    »Wünschen Sie irgendwelche besonderen Merkmale?«
    »Was meinen Sie?«
    »Muttermale zum Beispiel, oder Narben. Soll die Haut getönt werden, wollen Sie Lidschatten, ein paar hübsche weiße Zähnchen vielleicht …?«
    »Auf keinen Fall«, schnitt José ihm das Wort ab.
    »Das müsste man nämlich dann jetzt …«
    »Kommt nicht infrage. Sie sollen vollkommen rein sein.«
    Gerade war eine Arbeiterin dabei, mithilfe einer Pinzette ein Glasauge in die entsprechende Schädelvertiefung einzusetzen. Enzo war ungeheuer stolz auf die Metallhalterungen, an denen die Augen im Innern der Puppenköpfe befestigt waren. Eine wirklich einzigartige Erfindung. Über einen winzigen, im Nacken unter den goldenen Locken verborgenen Hebel ließen sich die Augen bewegen. José trat zu den Frauen an den Tisch und sah der Arbeiterin mit der Pinzette über die Schulter. Der Fabrikherr folgte ihm auf Schritt und Tritt.
    »Darf ich?«
    Die Arbeiterin nickte stumm, erhob sich und trat einen Schritt zurück, um José Platz zu machen. Doch der winkte jetzt Enzo heran.
    »Kommen Sie. Die Puppe gehört Ihnen.«
    Enzo nahm erwartungsvoll vor der Puppe Platz. Ein Auge fehlte noch, außerdem die hintere Schädelhälfte und natürlich die Haare. Entschlossen griff Enzo nach der Pinzette, versenkte das Auge in der Höhle und justierte geschickt die Halterungen im Kopfinnern. Die Arbeiterin zeigte ihm, wie die zweite Schädelhälfte anzubringen war. Dann betätigte er den Nackenhebel. Die Augen rollten sanft hin und her und sahen einen nach dem anderen an.
    »Sie ist vollkommen«, flüsterte José.
    Eine solche Perfektion gleich auf Anhieb! Früher hatte es ihn viele vergebliche Versuche gekostet, bis sich ein Erfolg einstellte. Meist dann erst, wenn er von den Schmerzensschreien seiner Kreaturen schon halb taub war. Und dieses Mal war alles so verblüffend einfach …

10
    In einem Landgasthof in der Umgebung von Trelew hatte José zwei Zimmer reserviert, eins für sich und eins für Vater und Tochter. Am Grundstückstor brannte wie angekündigt eine Fackel, die ihnen in der Dunkelheit den Weg wies. Das mit sieben Gästezimmern ausgestattete Landhaus machte einen etwas heruntergekommenen, aber ausgesprochen urigen Eindruck. Außen von dichtem Efeu bewachsen, waren die Wände innen mit verschiedenen ausgestopften Hirsch- und Wildschweinköpfen geschmückt – Jagdtrophäen des alten, in den zwanziger Jahren aus Österreich nach Argentinien ausgewanderten Hausbesitzers, der sie jetzt überschwänglich empfing. José hatte ausdrücklich darum gebeten, seine Identität streng geheim zu halten, die fanatische Begeisterung seiner Gesinnungsgenossen war sein schlimmster Feind. Zu gern protzte man mit seiner Bekanntschaft und brachte ihn dadurch in größte Gefahr – so wie an diesem Abend, an dem man ihn an einem mit Festtagsgeschirr gedeckten Tisch erwartete und die Töchter des Hausherrn gekleidet waren, als stünde eine Hochzeit an. Auch der verräterische Überschwang, mit dem man ihn begrüßte, ließ keinen Zweifel: Man wusste, wer er war.
    »Herzlich willkommen«, rief ihnen der Österreicher in knarrendem Deutsch entgegen.
    José antwortete mit einem knappen Gruß auf Spanisch. Solange er kein anderweitiges Zeichen gab, hatte sich der Hausherr am Riemen zu reißen, so viel musste klar sein. Als der Österreicher seinen Gästen beim Ausladen der Puppenteile behilflich war und aus der Kiste, die er in die Hand gedrückt bekam, alle möglichen Arme und Beine herausschauten, stellte er daher lieber erst gar keine Fragen.
    »Bitte hier entlang.«
    Der Weg zu den Zimmern führte über einen von Kletterpflanzen berankten Gang. Lilith streckte die Hand aus und strich im Vorbeigehen über die vom Abendtau benetzten Blätter. Es war ihre erste Nacht in einem Hotel, fern von

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