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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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Mutter und Geschwistern. Alles kam ihr furchtbar fremd und aufregend vor. Der Österreicher blieb vor einer Tür stehen.
    »Da wären wir … Wer geht in die Nummer drei?«
    »Lilith und ich«, bestimmte Enzo.
    Das Zimmer unterschied sich kaum von denen der großmütterlichen Pension. Tapezierte Wände, dazu geblümte Bettwäsche, Holzmöbel und Steinfußboden. Lilith aber fand alles einzigartig.
    »Ich nehme das Bett hier, ja, Papa?«, rief sie begeistert.
    Während sie sich jauchzend auf die Matratze fallen ließ, stopfte der Österreicher Puppenköpfe, Arme und Beine in den Schrank. Was den Deutschen bloß dazu trieb, mitten in der Nacht säckeweise Puppenteile durch die Gegend zu schleppen? Dieser Argentinier mit seiner kleinen Tochter sollte vermutlich der Ablenkung dienen und alle in die Irre führen, die nach einem alleinreisenden Mann Ausschau hielten. Wozu sonst hatte er sich eine halbe Familie ans Bein gebunden?
    »Das Abendessen ist in fünfzehn Minuten fertig, Herr …«
    …
Mengele
. Beinahe wäre es ihm herausgerutscht. Er konnte kaum glauben, dass er dem berühmten Arzt gleich sein Essen servieren durfte. Bestimmt ließen sich durch solch prominenten Besuch Touristen anlocken.
    IN DIESEM BETT SCHLIEF Dr. J. M.
    … würde er am nächsten Tag in das Kopfteil des Bettes ritzen. Jetzt stand er regungslos auf dem halbdunklen Flur und wagte kaum zu atmen. Als er den verehrten Gast die Dusche aufdrehen hörte, schlug ihm das Herz vor Erregung bis zum Hals.
    Wenige Minuten später stellte im Bad nebenan auch Lilith das Wasser an. Während sie sich auszog, stimmte José drüben voller Inbrunst eine italienische Opernarie an. Beinahe hätte sie laut losgeprustet. Wie er sich abmühte, die für einen Tenor bestimmte Tonlage zu erreichen.
    Ma il mio mistero è chiuso in me
,
    Il nome mio nessun saprà! no, no
    Sulla tua bocca lo dirò!
    Seine Stimme kippte, aber er schmetterte weiter:
    Quando la luce splenderà
,
    Ed il mio bacio scioglierà il silenzio
    Che ti fa mia! …
    Lilith konnte der Versuchung nicht widerstehen: Kurzentschlossen kletterte sie auf die Duscharmaturen, zog sich von dort aus am Sturz des Lüftungsschachts hoch, der die beiden Badezimmer miteinander verband, und spähte durch die schimmligen Ritzen. Mit den Füßen im Wasser, riss José mit großer Geste die Arme in die Luft, als stehe er auf der Bühne vor seinem Publikum. Den Mund weit aufgerissen, die Augen geschlossen, warf er den Kopf in den Nacken … Seine Blöße wirkte, von oben betrachtet und zusammen mit dem kahlen Kopf und dem hervorstehenden Bauch, wie eine Karikatur. Dieser feuchte, schwabbelige Anblick drohte das sorgfältig gepflegte Bild des akkuraten, eleganten Herrn mit einem Schlag zunichte zu machen. Noch bevor José die Augen öffnete, hatte Lilith den Kopf schon zurückgezogen, sprang mit großer Wendigkeit hinunter und landete genau in dem Moment auf den feuchten Fliesen, als Enzo von außen an die Badezimmertür klopfte.
    »Beeil dich, Lilith!«
    »Ja, ich komme gleich!«
    Was sie eben in der Dusche zu Gesicht bekommen hatte, hatte trotz der wenig ansehnlichen Einzelheiten starken Eindruck auf sie gemacht, zumal sie noch nie zuvor einen nackten Mann gesehen hatte. Ihr Herz klopfte. Das Heimliche und Verbotene versetzte sie in höchsten Aufruhr, und obgleich sie ihn gewissermaßen entlarvt hatte, empfand sie zugleich eine Art merkwürdige Zärtlichkeit für José, der ihrem Blick so schutz- und ahnungslos ausgeliefert gewesen war.
    Als sie ihn zehn Minuten später im Speisesaal des Landhotels sah, bekam sie vor Verlegenheit einen fürchterlichen Lachanfall. Sie wollte etwas sagen, bekam aber kein Wort heraus. Alles kam ihr mit einem Mal urkomisch vor: Josés todernste Miene, sein geschniegelter Anzug, der betont nüchterne Ton, mit dem er Wein, patagonisches Lamm und grünen Salat orderte.
    »Sind Sie nicht Vegetarier?«, fragte der Gastgeber erstaunt und biss sich auf die Zunge. Er hatte sich verplappert. Verwundert sah Enzo von der Speisekarte auf.
    »Ach … Sie kennen sich?«
    »Nein, nein. Der Herr hatte mir am Telefon gesagt, dass er kein Fleisch isst.«
    »Manchmal esse ich eben doch welches.«
    »Wir haben auch hausgemachte Leberwurst da«, schaltete sich die Hausherrin ein und rettete damit die Situation.
    Den ganzen Nachmittag hatten sie mit der Zusammenstellung eines vegetarischen Gerichtes verbracht. Seine Frau und die Töchter hatten das sonderbarste Grünzeug aus Trelews Gemüsegärten angeschleppt, denn

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