Wakolda (German Edition)
das?«
»Vor einer Woche schon. Es kam aber erst heute in den Nachrichten.«
»Und wo ist er jetzt?«
»In Israel.«
Ohne erkennbare Aufregung führte José die Teetasse an die Lippen. Ganz nüchtern rechnete er sich aus, dass die Agenten des Mossad wahrscheinlich gerade in diesem Augenblick wieder in Buenos Aires landeten. In wenigen Wochen hätten sie ihn aufgespürt. Er musste also früher aufbrechen als gedacht. Lilith auf den Verandastufen spitzte die Ohren, konnte aber nicht verstehen, worüber die Männer sprachen. Als José kurz darauf erklärte, es sei jetzt Schlafenszeit, tappte sie ihm wortlos durch den dunklen Gang hinterher, blieb die ganze Zeit ein paar Schritte hinter ihm. Ein Gefühl von Abschied überkam sie, ohne dass sie hätte sagen können, woher und warum.
José schloss die Tür zu seinem Zimmer auf und blieb auf der Türschwelle stehen. Er würde ihr die Spritze bei sich auf dem Zimmer geben, erklärte er, um Enzo nicht zu wecken. Wie weit er wohl in dieser Nacht gehen konnte? Lilith hätte zu allem Ja gesagt, das wusste er. Sie vertraute ihm, wie so viele vor ihr. Er ließ sie eintreten und schloss die Tür.
Früh am nächsten Morgen brachen sie auf. Im Wagen herrschte ein so undurchdringliches Schweigen, dass Enzo meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Schließlich kurbelte er die Scheibe herunter und atmete auf. Und endlich, hundert Kilometer vor Bariloche, erklärte sein deutscher Geschäftspartner, er werde sie verlassen.
»Jetzt gleich?«
»Noch vor dem Wochenende.«
»Und was wird aus den Puppen?«
»Die vertraue ich Ihnen an.«
Enzo versetzte es einen Stich, er klammerte sich ans Steuer. Die Landschaft, in der der Deutsche sich jetzt verabschiedete, war ebenso karg wie die, in der sie sich vor einigen Monaten kennengelernt hatten, nur dass inzwischen winterliche Temperaturen herrschten. Er blickte in den Rückspiegel. Seine Tochter hatte die Stirn gegen die Scheibe gedrückt, Tränen standen in ihren Augen. Sie biss auf ihren Nägeln herum, wie immer, wenn sie ihre Wut stumm in sich hineinfraß. Ihr Kleid hatte sie linksherum an, im Arm hielt sie die von José zusammengebaute Puppe. Jetzt dämmerte es Enzo: Als er nachts aufgewacht war, hatte er sich jemand leise ausziehen sehen. Benommen, wie er war, hatte er im ersten Moment weder seine eigene Tochter noch das Zimmer erkannt, das sie miteinander teilten. Alles kam ihm fremd vor.
»Lilith, bist du es?«
»Schlaf weiter!«
»Wie spät ist es?«
»Spät.«
Sie schien verstört, hockte sich auf den Boden und schlang die Arme um die Knie.
»Ist alles in Ordnung, Lilith?«
»Schlaf weiter.«
Ihre Stimme klang ganz fremd.
Er kam sich vor, als wäre er das Kind und seine Tochter die Erwachsene. Gehorsam schloss er die Augen. Ein unbestimmtes Unbehagen ließ ihn daran denken, wie sich Eva gesorgt hatte, als Lilith zum ersten Mal mit der Schule ins Zeltlager gefahren war. Seine Frau hatte damals die ganze erste Nacht wachgelegen und sich ausgemalt, was der Kleinen alles zustoßen konnte: Sie konnte einen Verkehrsunfall haben, beim Baden im See verunglücken, womöglich die drei Nächte im Zelt, wo sie schutzlos der Witterung ausgesetzt war, nicht unbeschadet überstehen. Und was erst bei der Bergwanderung oder in den Stromschnellen des Río Chubut passieren konnte … Am zweiten Tag hatte Eva sich ihrem Schicksal ergeben und verkündet, es sei nun an der Zeit, Lilith loszulassen.
Einer Mutter bleibt nichts anderes übrig, sonst wird sie verrückt
, hatte sie erklärt.
Lilith, so schloss Enzo nun, musste in der Nacht schon von Josés Entscheidung gewusst haben. Darum hatte sie morgens um fünf, als er die Augen aufschlug, noch wachgelegen. Und damit hing sicher auch ihr großer Kummer zusammen, versuchte er sich zu beruhigen.
»Müssen Sie wirklich ausgerechnet jetzt weg?«
»Es ist etwas Unvorhergesehenes vorgefallen. Meine Frau braucht mich.«
»Gehen Sie nach Buenos Aires zurück?«
»Ja, aber nur für eine Weile.«
»Dann kommen Sie also wieder?«
»Das ist gut möglich.«
Enzo war klar, dass er log; ganz bestimmt würden sie ihn nicht wiedersehen. Auch Lilith war im Bilde. Sie kochte vor Wut, verspürte aber zugleich auch Erleichterung. Doch weder sie noch Enzo löcherten José weiter, weshalb es plötzlich so drängte; beide wussten, dass es zwecklos war. Also sprachen sie über Geschäftspläne. Die Puppen mussten zusammengebaut und unter die Leute gebracht werden. Mehrere von Josés Bekannten hatten bereits
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