Wakolda (German Edition)
Schneetreiben hervor. Lilith hatte oft an das Mädchen aus der Wüste gedacht, daran, dass Yanka, die kaum zwei Jahre älter war als sie, hochschwanger gewesen war; an den nächtlichen Puppentausch, vor allem aber an ihre arme Herlitzka, die ganz allein in der Wüste in dem Karton unterm Bett zurückgeblieben war. Herlitzka baumelte jetzt an Yankas rechter Hand. Yankas Bauch war verschwunden.
»Hallo Yanka! Was macht ihr denn hier?«, rief Lilith verdutzt.
»Du hast etwas, was uns gehört.«
»Ich weiß nicht, was du meinst …«
»Wakolda.«
»Wir haben damals doch getauscht.«
»Du musst sie mir aber jetzt wiedergeben«, erklärte Yanka mit etwas banger Stimme. Sie war nur deswegen noch am Leben, weil sie, als Cumín damals die blonde Puppe unter ihrem Bett fand, gerade frisch entbunden hatte. Sie hatten Monate gebraucht, bis sie ihre Spur aufgenommen hatten, ihr einziger Anhaltspunkt war, dass sie damals weiter Richtung Süden wollten, doch Patagonien war groß. Einen Augenblick überlegte Lilith, ob Yanka vielleicht einem ihrer Albträume entsprungen sein konnte, die sie in letzter Zeit immer häufiger plagten. Während ihrer Krankheit hatte sich ihr Zimmer manchmal in eine Art Bunker verwandelt, in dem die blonden, blauäugigen Puppenbabys jeden Winkel besetzten. Die schönsten wachten neben ihr auf dem Nachtischchen, die übrigen drängten sich in den Regalen. Eines Nachts war Lilith aufgewacht, die Puppen hatten sie angestarrt, und sie hätte schwören können, dass manchen von ihnen ein Arm oder Bein fehlte.
Wahrscheinlich reißen sie sich die selber aus
, hatte sie gedacht, denn die fertigen Puppen würden verkauft werden, wollten sie aber nicht allein zurücklassen. So redete Lilith sich ein, dass es die Puppen waren, die keinen Frieden fanden, und nicht sie. Als sie schon einmal vorsorglich ihre Sachen für den Umzug in ihr altes Zimmer gepackt hatte, kam es ihr vor, als würde ein Teil von ihr für immer in diesem Zimmer zurückbleiben – als wäre auch ihr ein Körperglied ausgerissen worden.
Die einzige Puppe, die Lilith niemals Angst eingejagt hatte, war Wakolda, die kleine Indianerin, die inmitten dieses ganzen Aufgebots an arischer Reinheit so unrein war wie nie zuvor. Einmal hatte Lilith sie nachts besonders fest umarmt und in ihrem Bauch etwas Hartes gespürt. Im Fieberrausch erzählte sie José am nächsten Abend, die Mapuche-Puppe habe etwas in ihrem Bauch drin … Wahrscheinlich sei sie schwanger wie ihre frühere Besitzerin. Er solle einmal seine Hand auf den zerschlissenen Stoff legen und ihr den geschwollenen Bauch abtasten.
»Hier. Fühlen Sie das?«
José nickte nur beiläufig, die Sache schien ihn nicht weiter zu interessieren.
Am nächsten Morgen sah man Wakoldas Bauch an, dass er aufgeschlitzt und wieder vernäht worden war. Lilith runzelte die Stirn.
»Sagen Sie mir sofort, was Sie mit meiner Puppe gemacht haben!«, empfing sie José aufgeregt, als dieser ihr seinen üblichen Krankenbesuch abstattete.
Er lächelte nur.
Dann fuhr er ihr mit einem feuchten Waschlappen über die Stirn und flüsterte:
»Deine Wüstenfreundin weiß gar nicht, was sie dir da geschenkt hat.«
Und ob sie das weiß
, dachte Lilith jetzt, wo Yanka vor ihr stand.
Sie würde die Puppe schnell holen gehen und wäre gleich wieder zurück, versprach sie.
»Nur dass du Bescheid weißt! Wenn du sie nicht freiwillig rausrückst, werden wir sie uns selber holen!«, rief Yanka ihr hinterher.
Trotz des heftigen Schneegestöbers waren an die dreißig Gäste zur Tauffeier der Zwillinge erschienen. Nora war die drei Stufen zum Haus hinaufgestiegen und hatte durch das erleuchtete Fenster gute Sicht auf das Geschehen. Die Gäste hatten sich um die erschöpfte, aber glücklich aussehende Eva geschart, neben ihr stand der Pfarrer, die kleine Berta im Arm, und sprach die Predigt. Die kleine Alicia lag in Evas Armen und wartete auf ihren Taufsegen. Was es diese zarten kleinen Wesen gekostet hatte, noch am Leben zu sein, ahnte keiner der Anwesenden. Nora sah sich interessiert das Schauspiel an, blickte dann stirnrunzelnd zu Lilith hin, die offenbar keinerlei Eile hatte, das Haus zu betreten, obwohl die Zeremonie sichtlich in vollem Gange war.
»Wieso bist du nicht da drin bei den anderen?«
»Ich darf nicht.«
»Wieso das denn?«
Lilith zuckte resigniert mit den Schultern. Sie war es inzwischen gewöhnt, ihre Eltern und Geschwister allenfalls aus der Ferne zu sehen.
»Ich hatte eine Lungenentzündung und darf
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