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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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sprach sich manches herum. Nora wusste ganz genau, dass man in einem Lokal mitten im Stadtzentrum jedes Jahr im April Hitlers Geburtstag beging, dass auf den Hütten des Cerro López zweimal im Monat Nazitreffen abgehalten wurden und sich unter dem Leitungspersonal der Schule mehrere ehemalige SS-Männer befanden …
    An einem mit Mitteilungen aller Art gespickten Schwarzen Brett hing ein von Hand koloriertes Foto. Ein kleiner blonder Engel mit rosa Porzellanhaut blickte ihr entgegen und hatte genau den gleichen Waisenkinderblick wie die Puppe dieses Schweins aus Buenos Aires. Darunter stand eine Telefonnummer, es war eine aus dem Ort:
    PUPPEN WIE IN EUROPA
    Die Klassenzimmertüren flogen auf, und Kinder schwärmten über den Flur. Nicht alle redeten deutsch, doch für Nora traten die anderen Stimmen in den Hintergrund. Auf ewig würde Deutsch für sie die Sprache des Schreckens sein. Es jetzt plötzlich wieder zu hören jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Sie wandte sich um. Arko stand direkt hinter ihr. In ihrer Skimontur, noch leicht berauscht vom Alkohol und den Bergen, wirkten sie wie zwei Außerirdische. Schon wurden sie umringt.
    »Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen«, brachte Nora gerade noch heraus.
    Zu spät. Eine Lehrerin erschien, hinter ihr sah sie einen weiteren Kollegen heraneilen. Sie musste sich etwas einfallen lassen; damit kannte sie sich aus; schließlich war ihr Leben ein einziges großes Täuschungsmanöver.
    »Du sagst kein Wort«, zischte sie Arko zu. »Lass mich das machen.«
    Nora setzte ihr charmantestes Lächeln auf. Nächstes Jahr ziehe sie mit Mann und Kindern nach Bariloche, erklärte sie der Lehrerin, und wolle sich daher schon einmal nach einer geeigneten Schule umsehen. Ihre Jüngste sei sieben und könne den Umzug nach Patagonien kaum erwarten, der Zehnjährige allerdings habe darauf bestanden, sich seine Schule selbst auszusuchen. Als sie sich anschließend erkundigte, ob die Schule denn auch nichtdeutsche Schüler akzeptierte, klang Nora so überzeugend, dass Arko große Augen machte. Sie wisse, fuhr sie fort, dass die deutsche Erziehung die beste überhaupt sei. Ja, selbstverständlich wolle sie einen Blick in die Räumlichkeiten werfen. Aber das müssten sie auf das nächste Mal verschieben, wenn sie mit der ganzen Familie wieder herkomme. Nein, der Slowene sei nicht ihr Mann, erläuterte sie mit einem herzlichen Lachen, sondern … ihr Bergführer. Der Lehrer flüsterte seiner Kollegin etwas ins Ohr, woraufhin diese in Otto den Mann von der Bergwacht erkannte. Mehrfach schon war er Schülern zu Hilfe gekommen, die sich in den Bergen verirrt hatten. Arko hätte schwören können, dass die Fremde, die sich da in seiner Gegenwart gerade neu erfand, ganz feuchte Augen bekommen hatte, als sie erzählte, wie die ganze Familie dem Umzug entgegenfiebere. Er war sich jetzt ganz sicher: Alles, was er gerade gehört hatte, war die reine Wahrheit. Die einsame Wölfin, die sie ihm die letzten zwei Stunden lang vorgespielt hatte, war reine Fiktion. Bevor sie sich von der Lehrerin verabschiedete, wanderte Noras Blick noch einmal zu dem blonden Engel auf dem Foto.
    »Würden Sie mir verraten, wo ich eine solche Puppe bekomme?«
    »Ein Schülervater stellt sie her.«
    »Ich würde meiner Tochter gern eine mitbringen.«
    »Wenn Sie einen Augenblick warten, stelle ich Ihnen die Tochter des Puppenmachers vor.«
    Sie wandte sich auf Deutsch an den Kollegen:
    »In welcher Stufe werden gerade die Fotos gemacht?«
    »In der ersten.«
    Die Lehrerin nickte. Dass die Dame Bariloche nicht ohne eine von diesen außergewöhnlichen Puppen verlassen wollte, kam ihr plausibel vor. Jeder wollte so eine. Auch sie selbst hatte kürzlich eine Puppe bei Enzo bestellt.
    »Haben Sie noch einen Moment?«
    »Alle Zeit der Welt«, gab Nora lächelnd zur Antwort. »Schließlich bin ich im Urlaub.«
    Sie folgte der Lehrerin in die Aula, wo an die dreißig Kinder darauf warteten, dass man ein Schuljahresfoto von ihnen machte. Während der Fotograf das Stativ aufbaute, wachten zwei Lehrer darüber, dass Liliths Klasse ordentlich in Reih und Glied stand und sich die Kleinsten ganz vorn aufstellten. Einer der Schüler hielt eine Tafel in der Hand, auf der stand:
    Escuela Primo Capraro
1960
    Der Fotograf schoss zwei Gruppenfotos, dann kamen die Einzelportraits an die Reihe. Die Lehrerin machte Nora auf ein kleines, zerbrechlich wirkendes Mädchen aufmerksam, das auf den Fotografen zuschlich, als koste sie

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