Wakolda (German Edition)
meinen kleinen Schwestern nicht zu nahe kommen.«
»Und wie lange soll das so weitergehen?«
»Bis ich wieder ganz gesund bin. Bald darf ich auch wieder in mein altes Zimmer.«
Lilith hustete. Offenbar war das der Grund dafür, dass noch immer alle einen Bogen um sie machten.
»Bist du denn getauft?«, fragte Nora, obwohl es ihr weder der geeignete Moment noch der rechte Ort dafür zu sein schien, Lilith zu erklären, wie sie, die im Konzentrationslager aufgewachsen war, es mit Gott hielt.
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
»Und warum du nicht, deine Schwestern aber schon?«
»Als ich klein war, waren meine Eltern noch Atheisten.«
»Und jetzt?«
»Jetzt habe ich keine Lust mehr.«
Nora schmunzelte. Die trotzige Haltung ihrer kleinen Gastgeberin erinnerte sie daran, wie sie selbst in dem Alter gewesen war. Drinnen tauchte der Pfarrer die Zwillinge ins Weihwasser. Die Kleinere der beiden, deren Lungen immer noch schwach waren, schien weitaus weniger zu protestieren als ihre Schwester. Lilith war überzeugt: Dass sie noch am Leben war, hatte nicht das Geringste mit irgendeinem Gott zu tun, sondern war einfach ein Wunder. Nora musterte derweil die Gesichter der Gäste und fragte sich, ob sie ihn unter so vielen Bärten und Schnurrbärten wohl wiedererkennen würde.
Plötzlich wurden die beiden vom Scheinwerferlicht des Chevrolets erfasst.
Lilith hatte Josés Wagen erkannt, bevor Motor und Lichter hinter ihnen erloschen. Wenig später kam José in Hut und schwarzem Anzug durch den leuchtendweißen Schnee auf sie zugestapft.
»Da ist er.«
Nora hatte ihn trotz der Dunkelheit auf den ersten Blick erkannt. Dass sie sich an so viele Einzelheiten erinnern konnte, überraschte sie selbst. Geschniegelt wie eh und je, bewegte er sich erhobenen Hauptes auf sie zu, und sofort meinte sie die gefährliche Mischung aus Arroganz und Erbarmungslosigkeit wiederzuerkennen, mit der er jahrelang über Tod und Leben entschieden hatte. Wie oft hatte sie sich dieses Wiedersehen ausgemalt. Dass es sich derart beiläufig anlassen könnte, hätte sie nicht für möglich gehalten. Da stand er nun endlich vor ihr, und sie spürte nur noch panische Angst.
»Hat die Zeremonie schon begonnen?«, erkundigte sich José, ohne zu grüßen.
»Sie sind gerade dabei«, gab Lilith Auskunft.
José hielt ihnen die Haustür auf, sie traten mit ihm ein. In der Eingangshalle legte er Hut und Mantel ab. Nora sah ihm zum ersten Mal in die Augen. Er hatte an seinem Äußeren wirklich gar nichts verändert, weder einen chirurgischen Eingriff vornehmen noch sich einen Bart wachsen lassen, ja nicht einmal einen Schnurrbart. Er war auch nicht nennenswert gealtert. Nora hielt dem Blick kaum stand; als Lilith sie einander vorstellte, zitterte ihr die Hand. José hätte sich gar nicht länger mit ihr aufgehalten, doch er hatte Noras Angst gewittert und fragte scheinheilig:
»Sie sind auf der Durchreise?«
»Sie will unbedingt eine Puppe kaufen«, posaunte Lilith.
»Für wen, wenn ich fragen darf?«
»Für meine Tochter.«
Die ich hätte, wenn es dich nicht gäbe
, dachte sie verbittert.
José hielt einen Moment inne und kniff die Augen zusammen, als müsse er seine Gedanken sortieren. Kein Zweifel, er kannte diese Frau. Hastig kramte er einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und drückte ihn Lilith in die Hand.
»Zeigst du ihr die Puppen?«
Er nickte Nora zu.
»Sie entschuldigen mich.«
Auch wenn er das kleine Mädchen in Nora nicht wiedererkannt hatte – ihm war sonnenklar, dass diese Frau ihn gesucht und gefunden hatte; sie gehörte vermutlich zu den Kopfgeldhasardeuren, die ganz Argentinien nach ihm durchkämmten.
Und sie war offenbar nicht allein gekommen.
Schon als er die Tierarztpraxis verließ, war ihm an der Ecke ein Ford aufgefallen; wegen des Nebels konnte er nicht sehen, wie viele es waren, aber um wen es sich handelte und dass sie gekommen waren, ihn zu holen, war ihm sofort klar gewesen. In einer Kurve kurz hinter Bariloche war der Ford hinter ihm aufgetaucht und ihm in einigem Abstand gefolgt.
José dachte keinen Moment an Flucht.
Wie schon seit Tagen war der Schneefall in den Abendstunden besonders heftig, meist kam dazu noch starker Wind auf. Bei dem Schneesturm musste man im Schritttempo fahren, aufblenden und sogar die Nebelscheinwerfer anschalten. Auf der verschneiten Bergstraße zu beschleunigen war Selbstmord. Doch dafür hatte er eine weitaus zuverlässigere und schmerzfreie Methode. Er holte die Zyankalikapsel aus der
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