Wakolda (German Edition)
ihr die Pension eröffnet?«
»Diesen Sommer. José war unser erster Gast. Er sagt, er hat uns Glück gebracht.«
Lilith nahm eine Puppe in die Hand und drehte den Hebel in ihrem Nacken so, dass sie Nora mit ihrem gläsernen Blick direkt ansah.
»Sie haben hier hinten so einen kleinen Hebel, siehst du?«
Die Puppe starrte Nora ausdruckslos an.
»Du kannst dir eine aussuchen.«
»Ich finde sie ein bisschen unheimlich.«
»Ach, das sind doch nur Babys …«
»Sie haben aber keine Babyaugen. Kein Baby hat so einen Blick …«
»Was denn für einen Blick?«
»So einen wie du.«
Als Nora klein war, noch bevor sie in Josés Fänge geriet, hatte sie kein Blut sehen können, überhaupt hatte sie Schmerzen schlecht ausgehalten. Ihr großer Bruder hatte deswegen immer gesagt, für die Welt da draußen müsse sie stärker werden. Und hatte am Ende doch früher aufgegeben als sie.
»Weißt du, ich hatte in deinem Alter auch diesen Blick.«
Sie sah in Josés Kleiderschrank. Ein paar Kleidungsstücke, Hemden, ein Anzug, ein Koffer. Er war nur mit dem Allernotwendigsten unterwegs, klar, so hinterließ er keine Spuren. Nora musterte wieder die Puppen. Sie sahen alle gleich aus. Dann aber kam es ihr vor, als habe eine doch einen besonderen Ausdruck: Sie schaute etwas schelmenhaft drein und hatte außerdem zwei besonders schön geflochtene, hellblonde Zöpfe.
»Ich nehme diese hier«, verkündete sie und zog eine Minox aus ihrer Tasche.
»Ich darf doch ein Foto machen?«
Ohne Liliths Antwort abzuwarten, knipste sie die Puppen gleich mehrfach und lichtete auch das Zimmer aus verschiedenen Perspektiven ab. Lilith beobachtete sie mit ernster Erwachsenenmiene von der Türschwelle aus.
»Wir müssen jetzt gehen.«
Lilith schloss die Tür ab und führte Nora wieder nach unten, wo man inzwischen in Partystimmung gekommen war. Jemand hatte Musik angestellt, hier und da wurde sogar getanzt, selbst die Schüchternsten tauten langsam auf. Nora wusste, was sie zu tun hatte. Im Arbeitszimmer, das von der Eingangsdiele abging, stand ein Telefon. Sie sah sich um. José stand in einer Ecke und unterhielt sich mit Lilith. Kurz darauf kam er mit zwei Sektgläsern in der Hand auf Nora zugesteuert und hielt ihr eines hin.
»Lassen Sie uns auf die Zwillinge anstoßen.«
Er lächelte galant.
»Ich sollte nicht … Ich muss noch fahren, zurück ins Hotel.«
»Da kann Sie doch bestimmt jemand bringen. Hier in der Gegend ist man außerordentlich hilfsbereit … Und heute Abend wird gefeiert.«
Nora nahm ihm das Glas ab.
»Und jetzt: Darf ich bitten?«, sagte José schwungvoll, griff nach ihrer Hand und hatte sie schon auf die Tanzfläche gezogen.
»Ich höre, Sie haben sich für eine meiner Lieblingspuppen entschieden.«
Die Musik war so laut, dass er ihr direkt ins Ohr sprechen musste. Als seine Haut die ihre berührte, erschauerte Nora vor Ekel, Angst und Wut – und ihr Herz klopfte so wild wie in den ersten Nächten damals.
»Wussten Sie, dass die Puppe echtes Haar hat?«
»Ich habe sie nicht angefasst.«
Er zog sie näher zu sich heran, seine Handfläche lag genau über ihrem Steißbein.
»Sie fotografieren also gern …«
Nora nippte an ihrem Champagner, den sie immer noch in der Hand hielt.
»Ich bin Fotografin«, erklärte sie und bemühte sich um ein Lächeln. »Und Touristin.«
»Und was fotografieren Sie so?«
»Alles Mögliche.«
»Machen Sie auch Forensik?«
»Wie bitte?«
»Haben Sie schon einmal Tote fotografiert?«
Nora sah ihm fest in die Augen.
»Ja, in Ushuaia. Fünf Bergsteiger, die sich verirrt hatten.«
»So, so. Und sagen Sie, Eldoc …«
»Nora.«
»Eldoc gefällt mir besser.«
»Dann sollte ich Sie wohl auch bei Ihrem Nachnamen nennen.«
José schaute Nora belustigt an. Ihre Unterhaltung war jetzt ein offenes Duell.
»Glauben Sie, ein Mensch ahnt, dass er gerade die letzten Stunden seines Lebens erlebt?«
»Haben Sie vor, bald zu sterben?«
»Noch nicht … Ich habe noch Verschiedenes zu erledigen.«
»Dann kommt mir Ihre Frage reichlich seltsam vor. Immerhin haben wir uns eben erst kennengelernt.«
»Es gibt da etwas, das mir nicht aus dem Kopf geht; es ist fast schon eine Obsession …«
Er rückte noch ein Stück näher, als wollte er ihr etwas gestehen.
» … immer, wenn ich das Foto eines Toten betrachte.«
»Und was geht Ihnen da nicht mehr aus dem Kopf?«
»Ob in dem Moment, in dem man abdrückt, ob da vielleicht …«
»Aber eine Kamera ist doch keine Waffe …«
José
Weitere Kostenlose Bücher