Wakolda (German Edition)
jeder Schritt Mühe.
»Das ist die Tochter des Puppenmachers.«
Der Lehrer ging zu Lilith hin und sprach kurz mit ihr. Sofort drehte sich Lilith zu der fremden Dame in Skikleidung um und kam strahlend auf sie zu.
»Die Dame würde deinem Vater gern eine Puppe abkaufen.«
Nora musterte das blasse Mädchen mit den dunklen Ringen unter den Augen. Obwohl sie lächelte, kam es ihr vor, als läge in dem Blick der Kleinen etwas Düsteres. Vielleicht lag es aber auch an ihr, dass sie selbst in einem Kindergesicht nur Düsternis sah.
»Ihr macht also diese schönen Puppen? Verkauft ihr sie denn auch?«
»Ja, im Moment noch bei uns zu Hause.«
»Ihre Eltern haben eine Pension in Belgrano. Vielleicht kann Arko Sie dorthin bringen.«
»Das tue ich mit Vergnügen«, warf Arko ein.
»Ist dein Vater denn jetzt da, Lilith?«
»Der ist immer da.«
»Dann fahren Sie doch am besten direkt hin und nehmen Lilith gleich mit.«
Lilith ging nach ihrer langen Krankheit erst seit wenigen Tagen wieder zur Schule. Wenn sie keinen Rückfall erlitt, durfte sie bald auch wieder in ihr altes Zimmer zurückziehen und endlich ihre neuen kleinen Schwestern kennenlernen, von denen sie sich – so hatte es José angeordnet – noch immer fernhalten sollte. Obwohl sie ja nur einige Meter voneinander entfernt lebten, hatte sie die letzten Wochen das Gefühl gehabt, man habe sie in ein fernes Land abgeschoben – in das Land von König José. Seit der Nacht in Trelew hatte sich die Welt für sie verändert, sie hatte ihre kindliche Unbekümmertheit verloren, plapperte nicht mehr wie einst drauflos, was ihr in den Sinn kam. Durch die hartnäckige Lungenentzündung aber war ihre Wesensveränderung niemandem aufgefallen. Eva, die sie ja ohnehin kaum zu Gesicht bekommen hatte, schob die Tatsache, dass ihre Tochter neuerdings so still und abwesend war, auf die Krankheit.
Lilith stieg mit Nora und Arko in den Volkswagen. Bei der Tierarztpraxis bat Lilith, ob sie kurz anhalten könnten; mit einem Satz war sie draußen und klopfte an die Scheibe. Als sich nichts rührte, begann sie mit beiden Händen gegen die Ladentür zu trommeln. Seit einiger Zeit hatte der Besitzer Anweisung, die Tür abzuschließen, solange José hinten im Laden arbeitete. Lilith aber durfte eintreten. Bevor er die Tür hinter ihr absperrte, warf der Mann einen prüfenden Blick auf die beiden Fremden im Auto. In dem Augenblick sah Arko Nora von der Seite an und fragte:
»Wann soll denn der Umzug sein?«
»Wer zieht um?«
»Na Sie und Ihre Familie«.
Er siezte sie jetzt wieder.
Nora vermied es, sich mit der Frage zu beschäftigen, weshalb sie jedes Mal, wenn sie ein Leben für sich erfand, in dem sie nicht allein dastand, einen Knoten im Hals bekam. Manchmal hätte sie gern mit diesem anstrengenden Spiel aufgehört und sich zurückgezogen – doch dann wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie ja nirgends hingehörte, und stürzte sich auf die nächste zu verfolgende Spur.
»Ich habe weder Mann noch Kinder. Ich habe nicht einmal ein Haustier«, erklärte sie schroff; die Ladentür ließ sie nicht aus den Augen. »Meine ganze Habe passt in einen Koffer. Und selbst von dem könnte ich mich jederzeit problemlos trennen.«
»Und was haben Sie da vorhin alles erzählt?«
»Glauben Sie nichts von dem, was ich sage, Arko.«
»Gar nichts?«, flüsterte der Slowene.
Mit spöttischer Miene sah sie Arko an. Sie hatte keinerlei Mitleid.
»Ich erzähle ausschließlich Lügen.«
Arko lachte. Er mochte Menschen, die die Dinge beim Namen nannten. Die Beschreibung ihrer angeblichen Kinder mochte erlogen sein; sie hatte der Fremden, die ihn so in Bann zog, jedoch etwas von ihrer Unnahbarkeit genommen, und dahinter steckte eine ganz reale Sehnsucht, dessen war er sich sicher. Er glaubte, Noras Sehnsucht nach der Familie, die sie niemals haben würde, förmlich spüren zu können.
Als Lilith ins Hinterzimmer trat, rührte José gerade ein Milchkonzentrat mit verschiedenen Nährstoffen, Eisen, Hormonen und Vitaminen auf. In angereicherter Form war die Muttermilch um einiges dickflüssiger. José gab sie in ein Glas, das mit dem Namen
Alicia
beschriftet war, und stellte dieses in eine Box mit Trockeneis zu einem weiteren Glas mit dem Namen
Berta
.
»Du kannst deiner Mutter sagen, dass Alicia ab heute zwölf Kubikzentimeter bekommt. Berta weiterhin acht. Aber wo du schon einmal da bist, kann ich dir ja gleich hier deine Spritze geben.«
Lilith nickte ergeben und knöpfte ihre Bluse in
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