Wakolda (German Edition)
lachte und ließ Nora eine Drehung vollführen.
»Ich kann mir aber vorstellen, dass diese Bergsteiger, die Sie fotografiert haben, bis zum bitteren Ende gekämpft haben, auch wenn es völlig aussichtslos war, und dass …«
Nora versuchte, ihr Champagnerglas in der Drehung auf einem Tisch abzustellen, verfehlte ihn aber knapp; das Glas fiel klirrend zu Boden und zersprang. Um sie herum wichen die Tanzenden zurück.
»Keine Sorge, das kann passieren«, bemerkte José amüsiert.
Er schien abgelenkt worden zu sein und führte den begonnenen Satz nicht zu Ende. Nora sah ihn unverwandt an; langsam wurde man auf sie aufmerksam, doch das kümmerte sie nicht.
»Niemand ist sich seiner letzten Stunden bewusst, es sei denn, er ist dazu verurteilt … Durch das Gesetz oder durch eine tödliche Krankheit.«
José ließ den Blick auf ihr ruhen, dann empfahl er sich.
»Ich gehe Ihnen mal Ihre Puppe holen, Nora.«
In dem festen Glauben, der deutsche Arzt erlebe gerade seine letzten Minuten in Freiheit, sprach Nora eine der Waliserinnen an, die gerade eine weitere Runde Champagner servierte, und bat sie, kurz telefonieren zu dürfen. Jetzt würde sie den Anruf erledigen, auf den viele Menschen seit vielen Jahren warteten. Sie würde die Identität des Mannes bestätigen, der sie damals sterilisiert hatte.
14
José griff in der Diele nach dem kleinen Handkoffer, nach Mantel und Hut und eilte die Treppe hinauf. Lilith schlich ihm nach und bemühte sich, das Knarren des Holzfußbodens zu vermeiden, denn hier oben war sonst kein Mensch. José verschwand in seinem Zimmer, Lilith überlegte einen Moment und stieß dann die Zimmertür auf. Er war gerade dabei, seine wenige Habe in dem Köfferchen zu verstauen: Notizheft, Papiere, ein paar Bücher … Es wirkte, als habe er es ziemlich eilig.
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten«, sagte er auf Deutsch.
Lilith ging zum Fenster und zog die Spitzengardine auf. Von hier aus hatte man den Eingangsbereich des Hauses gut im Blick. Durch Schneegestöber und Nebel erahnte sie den Lieferwagen, in dem Cumín mit seinen Kindern saß.
»Lilith, hör mir zu: Gleich kommen ein paar Männer, um mich abzuholen.«
»Was? Wann denn?«
Lilith sah weiter aus dem Fenster.
»Gleich. In ein paar Minuten.«
José nahm eine von den Arierpuppen und setzte sie auf das Kopfkissen.
»Bitte bring sie hierher aufs Zimmer.«
»Warum?«
»Weil ich dich darum bitte.«
»Na und?«
Sie kochte vor Wut, dass er sich einfach aus dem Staub machte. José fasste ihr ans Kinn und drückte ihr den Kopf nach oben.
»Sieh mich an. Du würdest doch alles für mich tun.«
»Würde ich nicht.«
»Ach nein?«
Lilith schlug seine Hand weg:
»Nein …«
Im selben Augenblick flehte Nora unten im Arbeitszimmer Eva an, sie möge nicht von ihrer Seite weichen. Sie hielt den Telefonhörer noch in der Hand. Eva hatte die hebräischen Worte, die Nora zu der Person am anderen Ende der Leitung gesagt hatte, mitgehört und war mehr aus Höflichkeit zurückgewichen. Jetzt aber zog sie die Tür hinter sich zu, legte die Tochter, die sie auf dem Arm hatte, neben Nora auf den Schreibtisch und begann, ihr schweigend die Windeln zu wechseln. Nora nahm an, die Hausherrin erwarte eine Entschuldigung dafür, dass sie ungebeten zur Taufe ihrer Töchter erschienen war. Oder dafür, dass sie ohne zu fragen das Telefon benutzt hatte. Doch sie täuschte sich. Den Blick fest auf ihre Tochter geheftet, rang Eva heftig mit sich, ob sie die Frage, die sie seit Monaten beschäftigte, endlich stellen sollte.
»Ich würde zu gern wissen, wer …«, brachte sie schließlich heraus, ohne Nora anzusehen. Sie verstummte.
»Mein Name ist Nora Eldoc, und ich bin hier wegen …«
»Nein, nicht Sie. Wer der Mann ist, der seit Monaten hier bei uns wohnt.«
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
Eva nickte.
Zwei Tage später sollte Nora von ihrer Bergtour nicht mehr zurückkehren und ihre Leiche in einer Gletscherspalte gefunden werden. Obwohl sie im Besitz eines Diplomatenpasses war, bestritt die israelische Botschaft, dass es sich um eine Agentin handelte. Die auf den 12. Juli 1960 ausgestellte Sterbeurkunde nannte als Todesursache schwere Verletzungen.
Als José, den Koffer mit seinem Notizheft, den Blutproben ihrer Familie und den Wachstumshormonen in der Hand, aus dem Zimmer marschierte, hatte Lilith längst erfasst, was er vorhatte. Ihr war klar, dass sie eigentlich hätte Alarm schlagen sollen, stattdessen aber nahm sie Wakolda und rannte
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