Walburgisöl - Oberbayern-Krimi
blätterte ratlos in einem neuen Band. »Hören Sie mal: ›Niemand weiß von meinem Schmerz, der mich durchbohrt, wie die Lanze das Heiligste Herz Jesu durchbohrt hat. Doch der Schmerz lodert in mir wie eine ewige Flamme, und nichts kann sie zum Erlöschen bringen.‹« Er überlegte. »Es könnte sich theoretisch um chronische Schmerzen handeln. Ich habe da einen Kollegen, dessen Mutter momentan mit Walburgisöl gegen ihre Arthrose kämpft … Aber ich glaube eher, dass die Schmerzen im übertragenen Sinn gemeint sind. Ein gebrochenes Herz oder so was.«
»Vielleicht ein großer Verlust, den sie nicht verwinden kann«, sagte Mutter Apollonia. »Ein Mensch, der gestorben ist, eventuell ein Kind. Ein Unfall.«
Morgenstern schaute sie ratlos an, blickte dann auf seinen Notizblock und las murmelnd: »›Ich sollte altersmilde werden‹, Frühjahr 2005. Was immer passiert ist, es muss schon lange her sein. Vielleicht schon in ihrer Jugend.«
Die Äbtissin nickte Morgenstern aufmunternd zu. »Dann sollten wir uns jedenfalls die Mühe machen und auch noch die früheren Anliegenbücher durchsehen. Ich lasse sie holen. Wie weit sollen wir zurückgehen, Herr Kommissar?«
Morgenstern dachte kurz nach. »Angenommen, die Frau ist fünfundachtzig oder noch älter, dann würde ich sagen, wir nehmen die Bücher ungefähr ab 1940.«
»Sie haben recht, Herr Morgenstern. Mögen Sie vielleicht einen Kaffee und ein Nusshörnchen? Wir haben unsere eigene Bäckerei hier, müssen Sie wissen.«
»Gebäck? Gerne. Und den Kaffee bitte schwarz, ohne Milch und Zucker«, sagte Morgenstern.
Mutter Apollonia verließ den Besprechungsraum und war nach zehn Minuten wieder zurück; im Arm trug sie einen großen Stapel Bücher.
»Ich habe nicht mehr alle Jahre genommen, das wären zu viele, sondern habe sozusagen eine repräsentative Stichprobe gezogen«, erläuterte sie. »Sonst sitzen wir heute Abend noch da.«
»Da haben Sie recht«, sagte Morgenstern. »Geben Sie mir doch gleich mal eines von den ganz frühen Büchern.«
Die Äbtissin suchte ein Heft aus dem Stapel heraus, das von 1943 bis 1944 reichte, und Morgenstern blätterte – inzwischen geübt – gezielt nach den Freitagseinträgen am Monatsanfang. Das Buch quoll geradezu über vor Einträgen von Frauen, die in ihrer hilflosen Not die heilige Walburga anflehten: Fast immer ging es ihnen um die sichere Heimkehr der Ehemänner, Söhne oder Enkel, die als Soldaten an den Fronten in ganz Europa kämpften oder als vermisst gemeldet worden waren. Zwischen den Zeilen glaubte Morgenstern die Vorsicht der Frauen lesen zu können, kein kritisches Wort zu schreiben über diesen Krieg, der eindeutig nicht mehr zu gewinnen war.
»Die Gestapo hat bestimmt heimlich in diesen Büchern mitgelesen, ob sich irgendeine verzweifelte Frau der Wehrkraftzersetzung schuldig macht«, sagte er nachdenklich.
»Ach, dafür brauchte es gewiss nicht die Gestapo«, antwortete Mutter Apollonia. »Damals hat es von Denunzianten nur so gewimmelt, das liegt vielen Menschen anscheinend im Blut. Denken Sie doch mal an die alte DDR . Da war jeder Zehnte ein Stasispitzel.« Seufzend fuhr sie fort: »Mich macht so etwas traurig. Ich würde mir wünschen, die Menschen wären stärker, mutiger, menschlicher. Aber sie sind es nicht. Die Menschen sind, wie sie sind. Viel zu oft sind sie egoistisch, auf den eigenen Vorteil bedacht, feige, heimtückisch, nachtragend oder einfach nur oberflächlich, gedankenlos und dumm.«
»Na, Sie haben mir vielleicht ein Menschenbild, Mutter Apollonia«, widersprach Morgenstern. »Glauben Sie denn nicht an das Gute im Menschen? Sie als Klosterfrau müssen das doch schon von Amts wegen, oder nicht?«
»Doch, das Gute ist dem Menschen von Gott eingepflanzt, tief ins Herz, da haben Sie völlig recht. Viele Menschen kümmern sich jedoch nicht um dieses kleine Pflänzchen. Sie pflegen es nicht, sie gießen es nicht. Sie geben ihm keine Sonne zum Wachsen und keine Luft zum Atmen. Sie jäten nicht das Unkraut des Bösen, dessen Samen leider ebenfalls in uns ausgestreut liegt. Sie lassen es zu, dass dieses Pflänzchen überwuchert wird, bis man es kaum noch erkennen kann. Doch es ist immer noch da. Denn es ist unzerstörbar. Nur: Ein großer stattlicher Baum wird daraus nicht mehr werden. Und ich frage Sie: Ist das dann die Schuld desjenigen, der es einst gepflanzt hat?«
Morgenstern dachte einige Augenblicke über das Gesagte nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Natürlich nicht.
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