Wald aus Glas: Roman (German Edition)
an die Rückseite des Gebäudes angebaut; dahinter gab es keine Häuser mehr, nur ein Feld, das in Wald überging. Die Hecke, die wohl als Lärm- und Sichtschutz diente, war so dicht, dass sie Mühe hatte, sich durch sie hindurchzuzwängen. Mittlerweile bellten drei oder vier Hunde. Das Echo ihres Gekläffs brach sich im Wald, man hörte sie bestimmt im ganzen Dorf. Aber wahrscheinlich schlugen sie jede Nacht irgendwann an, und Roberta brauchte sich deswegen nicht zu beunruhigen. Sofern man ihn nicht in einen anderen Käfig gebracht hatte, war Prinz im hintersten Zwinger. Sie hatte ihren Hund nur ein Mal besucht, gleich in der ersten Woche, nachdem man sie getrennt und in ihre Heime gesteckt hatte. Aber der Besuch hatte ihnen beiden nicht geholfen. Prinz’ Blick, als sie die Hände vom Gitter gelöst hatte und weggegangen war,war ihr tagelang nachgegangen und jede Nacht erschienen. Das schlechte Gewissen hatte Roberta mürrisch gemacht und vor allem traurig.
Um die Hunde nicht noch mehr zu verunsichern, ging sie dicht an der Hecke entlang ans hintere Ende der Anlage, die Blechschere mit den Händen umklammert wie einen Vorschlaghammer. Der Geruch, der über den Käfigen schwebte, erinnerte sie an Raubtiergehege in Zoos. Es stank nach wilden Tieren, nassem Fell, verdorbenem Fleisch und Desinfektionsmitteln. Einige der Hunde sprangen wie irr in den Käfigen umher, andere winselten und jammerten, wieder andere lagen auf den Betonboden gepresst in den hintersten Ecken ihrer Käfige, ohne einen Ton von sich zu geben, als fürchteten sie sich vor der alten Frau, die mitten in der Nacht an ihnen vorbeiging. Der Hund, der am lautesten bellte, ein teebrauner Boxer, hockte stolz in der Mitte seines Zwingers, nah am Gitter.
Prinz lag vor der hinteren Wand seines Verschlages, den weißen Kopf mit dem großen schwarzen Fleck über dem linken Auge und dem linken Ohr auf die Vorderpfoten gebettet, und blickte sie ruhig an. Hatte er sie erwartet? Oder blieb er so gelassen, weil er aufgegeben hatte? Sie ging vor dem Käfig in die Hocke, legte das schwere Werkzeug hin und hob die Hand, ohne etwas zu sagen. Prinz’ Augen folgten der Bewegung, aber er blieb liegen, ohne sich zu rühren. Dann fing sein Schwanz an, langsam über den Boden zu wischen, hin und her. Als Roberta die Hand ans Gitter legte und leise schnalzte, sprang ihr Hund mit einer fließenden Bewegung auf die Beine, kam auf sie zugelaufen und leckte ihr die Hand. Sein weißer Kehlfleck leuchtete.
»Jetzt hol ich dich hier raus«, sagte Roberta und nahm die Schere in beide Hände.
Das Gitter zu zerschneiden war einfacher, als sie angenommen hatte; sie musste die scharfen Scherenblätter nur einmal richtig zudrücken. Sie machte einen Schnitt, der lang genug war, um das Drahtgeflecht nach außen zu biegen und eine Lücke zu schaffen, durch die Prinz in die Freiheit drängen konnte. Kaum war er draußen, stellte er sich auf die Hinterbeine, stemmte ihr die Vorderpfoten auf die Brust, jaulte und leckte ihr das Gesicht ab. Dann ließ er sich auf alle viere fallen und drehte sich, außer sich vor Glück, mehrmals im Kreis, sinnlos mit aufgerissenem Maul nach Luft schnappend. Endlich blieb er stehen, drückte das Rückgrat durch und fing an, mit dem Schwanz gegen das Gitter zu peitschen. Prinz’ Glücksrausch trieb Roberta Tränen in die Augen. Sie spürte, wie sich eine Aufwallung unbändiger Freude in ihr ausbreitete, ein Gefühl, das sie beinahe vergessen hatte. Gleichzeitig wuchs Wut in ihr, Wut darüber, dass ihr Hund in diesem Zwinger gehalten worden war, weil ein Spekulant mit Wohnungen Geld verdienen wollte.
Nun bellten alle Hunde durcheinander, ein wilder, wütender Chor, der sich erst noch finden musste. Sie sog die klare Nachtluft ein, die vom See heraufgeweht wurde und stellte sich vor, wie in einem Haus nach dem anderen Menschen erwachten und erstaunt in die Nacht hinaushorchten. Hatten sich die Hunde aus ihren Zwingern befreit? Und jetzt? Kamen sie näher, außer sich vor Rachegelüsten, die sie in ihren Käfigen jahrelang gehegt hatten? Oder machten sie sich im Rudel über die Hügel davon? Das Bellen der Hunde klang verzweifelt, aber auch rein und kräftig, einRuf über den dichten stillen Wald hinweg, nicht zu überhören.
Erst wollte sie die Blechschere vor dem Zwinger liegen lassen, dann nahm sie das Werkzug mit; sie würde es in der Fahrerkabine zurücklassen. Sie klopfte Prinz auf die Flanke und drängte sich vor ihm durch die Hecke auf den
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