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Wald

Wald

Titel: Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Waechter
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fängt an die Toten zuzuschaufeln. Wieder und wieder bohrt er seine Fingerspitzen tief in den Morast und schüttet den Schmodder spritzend über die Leichen, bis sie ganz unter dem Schlamm verschwunden sind. Dann fängt er wieder von vorne an.

»Alle Dinge sind im Fluss«
     
    Auf einer Insel, beinahe im äußersten Süden der Welt gelegen, wurde Palamon mit edlem Blute und Gemüt geboren. Sein Vater war der Herr des Landes, von Gottes Gnaden eingesetzt. Und so wuchs alsbald der Zögling zu einem kräftigen Jüngling heran, von schöner Gestalt und wahrlich galant. Sein Gesicht war so weiß wie Weißbrot und die Wangen so lieblich als wären sie mit Scharlach gefärbt. Sein Haar und sein Bart waren wie Safran und seine Taille war so schmal, dass viele Jungfrauen in ihren Kemenaten harrten und Nacht um Nacht seufzend an ihn dachten, anstatt zu schlafen. Doch er war kein Wüstling und von keuschem und reinem Gewissen.
    Vor allem aber war er klug, mehr noch als jeder andere, der mit ihm im Fürstentum lebte. Und so begab es sich, dass er sich bereits in frühen Jahren für die Geschichte interessierte, anders als man es von Jungen erwartet. Er aber war kein normaler Heranwachsender. Bald schon wurde er von dem Gedanken ergriffen, dass die Menschen nur dazulernen könnten und Fehler in der Zukunft vermeiden würden, wenn sie zunächst mit ihrer Historie vertraut wären. So las er alle Manuskripte, die er in seine Hände bekam, bis er eines Tages unerwartet auf die Aufzeichnungen eines gelehrten Mannes stieß, von dem man ihm noch nie berichtet hatte.
    »Alle Dinge fließen, oder kannst Du, Mensch, etwa zweimal an derselben Stelle in einen Fluss eintreten« , stand dort geschrieben und andere Gedanken, die man ihm nie vermittelt hatte. Später entdeckte er die Schrift eines weiteren Gelehrten, die den Menschen als Maß aller Dinge darstellte. An diesem Tag begann er zu verstehen, dass in seinem Fürstentum einst prächtige Philosophen gewirkt hatten, die mittlerweile in Vergessenheit geraten waren; denn es ward ein anderes Zeitalter.
    Von nun an war er besessen von dem höchsten Wunsche, der Kunst der Weisheitsliebe und der Lehre des Fabulierens und Formulierens zu einer neuen Blüte zu verhelfen. Deswegen ließ er sich alsbald nur noch mit Freund des Verstandes anreden, kleidete sich in einen langen Mantel, von altertümlicher Mode, mit dessen Schleppe er ebenfalls den Boden reinigte oder aber er wurde im Gegenteil nackt in den Gärten seines Vaters, auf einem Stein sitzend in Gedanken versunken erblickt.
    Und so geschah es eines Tages, dass er widerwillig sein feines Ross sattelte, denn er wurde von seinem jüngeren Bruder gebeten, an der Jagd zu partizipieren. Würdevoll ritten die beiden Edelmänner durch einen herrlichen Wald, voll wilder Tiere, selbstverständlich auch mit Böcken und Hasen. Auch prächtige Kräuter wuchsen dort, Lakritze, Baldrian und Muskatnuss, um das Bier zu würzen oder um es zur Wäsche zu legen. Aber als er galoppierte mit der Lanze in der Hand und dem Schwert an seiner Seite, und über einen schmalen Bach sprang, da erspähte er einen Hirsch. Das Tier floh, mit starken Beinen und kräftigem Schritt. Doch nach ermüdender Jagd verfing er sich mit seinem Geweih in einem Gebüsch. Palamon erhob seine Waffe und blickte sein Opfer an. Dann schrak er zusammen, bremste sein Pferd und rief aus: »So wahr ich hier stehe und so wahr ich meines Vaters Sohn bin, die Wahrheit habe ich soeben erkannt! Wenn das Leben fließt und der Mensch ein Mensch ist, dann hat jeder Einzelne von uns die Möglichkeit, sein Schicksal selbst zu schmieden. Denn so wie ich nun die Wahl habe, diesen Hirsch zu töten oder zu verschonen, so hat ein jeder die Fähigkeit, sich von seinen Leiden zu erlösen, solange er nur den Kern des Guten in seiner Seele erkennt, denn, so verkünde ich heute feierlich – der Mensch ist von Natur aus gut!«
    Sein Bruder blickte ihn mit Unverständnis in den Augen an, dann warf er seinen eigenen Speer mit sicherer Hand durch zwei Bäume auf das Wild, das majestätisch zu Boden fiel.
    In den Monden, die folgten, traf man Palamon an unterschiedlichsten Orten seine neue Erkenntnis verkündend. Auf den Marktplätzen, auf den Weizenfeldern, bei Geldwechslern, in Hurenhäusern und in Trinkhallen, aber nur selten im Palast. Als sein Vater davon hörte, missfiel ihm das Verhalten seines Sohnes und er ließ ihn zu sich rufen.
    »Es ist nicht gut, dass ein Fürstensohn sich unter das Volk mischt, und

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