Wald
Es ist das Bild, das er für Llyle anfertigte – zumindest eine Hälfte davon. Und da ist sie, die Wunderschöne, die Erhabene, auf dem Pferd sitzend.
Llyle.
Eine Träne schießt Envin ins Auge. Er sieht sich um. Ob Sidus wieder aufgetaucht ist, und ihn sehen kann? Nein. Er wischt den Tropfen aus dem Gesicht wie eine verblichene Erinnerung.
Das ist doch alles Wahnsinn, was sie hier machen.
Wenn er nur Sidus zum Umkehren bewegen könnte. Sie müssen zurückkehren. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in den Wald vordringen, wird ihr Unheil größer. Doch wie kann er das dem stolzen und ehrenhaften Sidus verständlich machen. Es raschelt im Gebüsch. Als Envin realisiert, dass es sein Bruder Sidus ist, der von seiner Magenentleerung wiederkehrt, springt er auf und schmeißt das Papier in die Tasche, bevor der Bruder es sehen könnte.
»Oh Envin! Du bist schon zum Aufbruch bereit. Wie vorbildlich! Mir scheint es fast so, als kommst auch Du langsam auf den Geschmack und investierst Dich in die Jagd. Sehr schön.«
Envin schweigt und schnürt sein Bündel zusammen. Sidus schmeißt ebenfalls seine Sachen auf einen Haufen und verpackt sie. Dann werfen beide Krieger ihr Gepäck über ihre Schultern und traben los – wie Lastesel, findet Envin.
Sie kommen nicht weit, als Sidus einen Schmerz spürt.
Das kann doch nicht sein.
Sidus bleibt erschrocken stehen.
»Wartest Du bitte einen Moment hier Envin. Ich muss mich noch einmal ins Gebüsch zurückziehen.«
Envin setzt sich gleichgültig auf einen Stein und nickt.
Sidus setzt seine Lasten ab und schleicht sich ins Unterholz. Er will schon anhalten, da läuft er noch ein Stück weiter – Envin soll nicht bemerken, dass er in Wirklichkeit nicht wegen seines Darms ausgetreten ist. Vielmehr ist es dieses Stechen am Knie, dass er unbedingt näher untersuchen muss. Als er eine Stelle erreicht, die ihm weit genug von der Position seines Bruders entfernt scheint, bückt Sidus sich und krempelt sein rechtes Hosenbein langsam hoch. Zum Vorschein kommt, zu seinem Entsetzen, eine Schürfwunde.
Aber ---
Das ist doch unmöglich. Mit Sicherheit hatte er sie gestern noch nicht. Und die Schürfwunde in seinem Traum? Das ist doch verrückt. Es kann doch nicht sein, dass man sich im Traum verletzt und die Wunde am nächsten Tag in der wirklichen Welt auftaucht!
Wenn er sich nur besser erinnern könnte, was die Mönche über Träume erzählt hatten. Glaubten sie nicht auch daran, dass Nachtbilder eine besondere Verbindung zwischen der sichtbaren Welt und der Welt der unsichtbaren Wesen war. Der Engel und der Geister?
Das ist alles Unsinn!
Wahrscheinlich hat er sich beim Herumwälzen im Schlaf das Bein angestoßen! So muss es gewesen sein.
Während er noch dasteht und nachdenkt, bewegt sich ein schwarzer Körper leise im Wald hinter ihm. Als er aufsieht, erstarrt er.
Sein Spiegelbild ist in die Realität des helllichten Tages zurückgekehrt. Erschrocken rennt Sidus durch den knietiefen Schnee, die Hose noch immer hoch geschoben, bloß weg von diesem fürchterlichen Trugbild.
Envin hört den Lärm den Sidus beim Aufspringen gemacht hat und erschrickt.
»Sidus?«
Keine Antwort.
Sidus prescht derweil voran, so schnell es eben geht, in die entgegengesetzte Richtung von der Stelle, an der er seinen Bruder zurückgelassen hat. Er stiebt und hastet und stürzt, Hauptsache weg. Doch vergeblich, gerade als er sich in Sicherheit wägt, taucht das Phantom in einem Gebüsch neben ihm wieder auf. Wie macht es das nur? Sidus stolpert, richtet sich sofort wieder auf und lässt den Verfolger nicht aus den Augen. Dieser steht einfach nur da und lächelt Sidus hämisch an. Bebend zieht Sidus sein Schwert aus der Scheide und hebt es zwischen ihn und den anderen. Doch der scheint auf diese aggressiv defensive Geste überhaupt nicht zu reagieren. Stattdessen macht er behutsam einen Schritt voran und nähert sich Sidus der aufgeregt zurückweicht.
»Was willst Du?«
Immer noch keine Reaktion des Gegners. Fuß um Fuß auf Sidus zu schreitend.
»Das ist verrückt!«, schreit Sidus ihn an.
»Du bist nicht wahr!«
Sidus gerät ins Schwitzen, trotz der niedrigen Temperaturen. Dann dreht er sich zur Seite. Was sind das schon wieder für Geräusche im Unterholz? Er hört Envins Stimme, die nach ihm ruft.
Oh nein!
»Verschwinde!«, brüllt er im Flüsterton.
Was wenn Envin sein Trugbild sieht? Er wedelt jetzt mit dem Schwert, um seinen Doppelgänger zu verscheuchen. Der Klang des Stampfens
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