Walden Ein Leben mit der Natur
gesunder Mensch empfindet, wird
schließlich über alle Einwände und Gewohnheiten der ganzen Menschheit siegen. Das höhere Ich hat keinen Menschen
jemals in die Irre geführt. Selbst wenn das Ergebnis körperliche Schwäche wäre, so könnte doch gewiß keiner behaupten, daß die Folgen zu beklagen seien, denn sie wären ein Leben in Übereinstimmung mit höheren Wahrheiten. Wenn Tag und
Nacht so sind, daß man sie freudig begrüßt, und das Leben nach Blumen und süßen Kräutern duftet, wenn es federt,
strahlt, unsterblich ist - das ist der Erfolg. Die ganze Natur beglückwünscht dich, und du hast guten Grund, dich für diesen Augenblick glücklich zu preisen. Die größten Reichtümer und Werte werden am wenigsten geschätzt. Wir sind nur zu leicht bereit, an ihrer Existenz zu zweifeln, und vergessen sie schnell.
Sie aber sind die höchste, die eigentliche Wirklichkeit. Die verblüffendsten Tatsachen werden in ihrer ganzen Realität kaum jemals von Mensch zu Mensch mitgeteilt. Die wahre
Ernte meines täglichen Lebens ist etwas so Unberührbares, so Unbeschreibliches wie die Himmelsfarben am Morgen oder
Abend; sie ist eine Handvoll eingefangenen Sternenstaubs, ein Stückchen Regenbogen.
Ich für meinen Teil war nie besonders wählerisch; wenn es nötig wäre, könnte ich eine gebratene Ratte mit Appetit verzehren. Ich bin froh, immer Wasser getrunken zu haben, und
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das aus dem gleichen Grunde, aus dem ich den natürlichen Himmel dem eines Opiumrauchers vorziehe. Ich würde am
liebsten immer nüchtern bleiben; und es gibt so viele Grade der Trunkenheit. Für einen weisen Mann ist Wasser meines
Erachtens das einzig richtige Getränk. Wein ist keine so edle Flüssigkeit. Und wie kann man nur die Hoffnungen eines
Morgens mit einer Tasse heißen Kaffees oder die des Abends mit einer Schale Tee zunichte machen! Wie tief sinke ich, wenn ich mich von ihnen in Versuchung führen lasse. Sogar die Musik kann berauschen. Solch offenbar kleine Ursachen
zerstörten Griechenland und Rom, sie werden auch England und Amerika zugrunde richten. Kann man auf schönere Weise trunken werden als durch die Luft, die man atmet? Mein
Haupteinwand gegen lang andauernde Arbeit ist der, daß sie mich zwingt, auch grob zu essen und zu trinken. l )och um die Wahrheit zu sagen, bin ich in dieser Beziehung zur Zeit etwas weniger genau. Ich setze mich mit weniger Frömmigkeit an den Tisch, bitte um keinen Segen; nicht, weil ich weiser bin als früher, sondern weil ich mit den Jahren bedauerlicherweise stumpfer und gleichgültiger geworden hin. Vielleicht
beschäftigen uns diese Fragen nur in der Jugend, wie es meistens ja auch von der Dichtkunst behauptet wird. Die gute Absicht ist vorhanden, die Ausführung aber läßt auf sich warten. Doch bin ich deshalb weit davon entfernt, mich für einen jener Auserwählten zu halten, von denen es in den Veden heißt: »Wer den wahren Glauben an die Allgegenwart des höchsten Wesens besitzt, mag alles essen, was existiert.«
Das bedeutet: er braucht nicht zu fragen, was er ißt und wer sein Essen zubereitet; doch selbst dieses Vorrecht beschränkt der Veda-Ausleger auf »Katastrophenzeiten«, wie ein Hindu-Kommentator bemerkt.
Wer hat nicht durch seine Nahrung mitunter eine
unaussprechliche Befriedigung verspürt, die nichts mit Appetit zu um hatte? Ich war geradezu erschüttert bei dem Gedanken, dem im allgemeinen rohen Geschmackssinn eine geistige
Erkenntnis verdanken zu sollen, sozusagen über meinen
Gaumen inspiriert zu werden, mein höheres Ich zu nähren
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durch ein paar Beeren vom Hügelhang. »Wenn die Seele nicht Herrin ihrer selbst ist«, sagt Tscheng-tseu, »schaut man und sieht man nicht; lauscht man und hört man nicht; ißt man und kennt den Geschmack der Speise nicht.« Wer imstande ist, den wahren Geschmack seiner Speisen zu erkennen, kann nie ein Schlemmer sein. Wer dazu nicht imstande ist, der wird es stets sein. Der Puritaner kann mit ebensolcher Gier an seine Scheibe Schwarzbrot gehen wie der Ratsherr an seine
Schildkrötensuppe. »Was zum Munde eingehet, das
verunreinigt den Menschen nicht«, sondern der Appetit, mit dem man es verzehrt. Es kommt auch nicht auf die Qualität oder die Quantität an, sondern auf die Hingabe an den
Sinnengenuß; wenn das, was wir essen, nicht Lebensmittel ist, um unser tierisches Leben zu erhalten oder unser geistiges Leben anzuregen, sondern Futter für die Würmer, die uns beherrschen. Wenn der Jäger an
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