Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
und Winter – gewähren immerdar solch gute Gesundheit und solchen Frohsinn, sie haben so viel Mitgefühl mit dem Menschengeschlecht, daß die Allnatur trauern, der Sonne Glanz erbleichen, die Winde wie Menschen seufzen, die Wolken Tränen regnen, die Wälder ihre Blätter abwerfen und im Hochsommer Trauer anlegen würden, wenn je ein Mensch wahrhaft Ursache hätte, traurig zu sein. Soll ich nicht mit der Erde im Einvernehmen sein? Bin ich selbst nicht zum Teil Blätter und Pflanzenerde?
Was ist das für eine Arznei, die uns glücklich, heiter und gesund erhält? Nicht die Deines oder meines Urgroßvaters, sondern die unserer Urgroßmutter Natur. Ihr Universalheilmittel, durch welches sie sich selbst jung erhielt, durch dessen Kraft sie manchen Hundertjährigen überlebte, um aus seinem morschen Gebein neue Kraft zu sammeln, entströmt Feldern und Wäldern. Statt jener Quacksalberstasche mit Mixtur aus dem Acheron oder dem Toten Meere, die man aus den langen, stachen, schwerbehangenen, schiffartigen Wagen nimmt, welche bisweilen zum Flaschentransport benutzt werden, soll meine Panacee ein Trunk unverdünnter Morgenluft sein. Morgenluft! Wenn die Menschen davon nicht trinken wollen am Urquell des Tages, dann müssen wir auch sie auf Flaschen ziehen und in den Läden verkaufen zum Besten derjenigen, die ihre Abonnementskarte "für Morgenluft auf dieser Welt" verloren haben. Dochdarf man Eines nicht vergessen: diese Morgenluft hält sich selbst im kühlsten Keller nicht bis zum Mittag, sondern treibt den Pfropfen von der Flasche und eilt nach Westen, Auroras Spuren folgend.
Ich bete nicht zu Hygieia, zur Tochter des alten Kräuterdoktors Äskulap. Den Vater findet man ja oft auf Denkmälern abgebildet: in der einen Hand hält er eine Schlange, in der andern einen Becher, aus dem die Schlange bisweilen trinkt. Ich verehre Hebe, die Jupiter den Becher reicht, die Tochter der Juno und des wilden Lattich; sie besaß die Macht, Göttern und Menschen die Jugendkraft zurückzugeben. Sie war wahrscheinlich die einzige tadellose, gesunde und starke junge Dame, die je auf Erden wandelte. Wohin auch immer sie kam, dort war es Frühling!
Besuch
Ich glaube, daß ich Gesellschaft geradeso liebe, wie die meisten Menschen; ich bin gleich zur Stelle, wenn es gilt mich wie ein Vampir eine Zeitlang an irgend einem vollblütigen Menschen, der meinen Weg kreuzt, festzusaugen. Ich bin von Natur aus kein Einsiedler und könnte vielleicht den seßhaftesten Stammgast in der Kneipe an Ausdauer übertreffen, wenn mein Geschäft mich dorthin riefe.
Ich habe drei Stühle in meinem Haus: einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft und drei für die Gesellschaft. Wenn unerwartet mehr Besucher kamen, mußten sie sich mit dem dritten Stuhl begnügen; der Raum wurde dann meistens dadurch gut ausgenutzt, daß sie sich nicht setzten. Es ist erstaunlich, wie viele große Männer und Frauen in einem kleinen Hause Platz haben. Ich sah schon fünfundzwanzig oder dreißig Seelen – mit ihren Körpern – gleichzeitig unter meinem Dache, und doch hatten wir beim Scheiden oftmals nicht das Gefühl einander sehr nahe getreten zu sein. Viele unserer Privathäuser und Staatsgebäude scheinen mit ihren fast unzählbaren Zimmern, ihren ungeheuren Hallen und Kellern zum Aufbewahren von Wein und anderer Friedensmunition viel zu groß für die Bewohner. Sie sind so hoch und prächtig, daß die Menschen wie Ungeziefer wirken, das darin haust. Und wenn der Herold vor einem der palastähnlichen Häuser Amerikas sein Horn bläst, dann sehe ich mit Erstaunen als einzigen Bewohner eine lächerliche Maus daraus hervorkriechen, die über die Piazza läuft, um nach kurzer Frist schon wieder in irgend ein Loch des Straßenpflasters zu schlüpfen.
Eine Unbequemlichkeit machte sich allerdings bisweilen in meinemkleinen Haus bemerkbar: die Schwierigkeit, in eine genügende Entfernung von einem Gaste zu gelangen, sobald wir begannen, große Gedanken mit großen Worten zu verkünden. Man muß Raum für seine Gedanken haben, damit sie die offene See gewinnen und einige Male lavieren können, bevor sie den Kurs auf den Hafen nehmen. Die Kugel Deines Gedankens muß erst ihre seitliche und die Prallbewegung überwunden und ihre entgültige, gleichmäßige Flugbahn angenommen haben, bevor sie das Ohr des Hörers erreicht, sonst nimmt sie womöglich den Weg durch seinen Kopf von einem Ohr zum andern. Auch unsere Urteile brauchen Zeit, um sich zu
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