Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
bisweilen abends nach solch harter Tagesarbeit müde sei. Er antwortete mit einem offenen und ernsten Blick: "Potz sapperment! Ich war nie in meinem ganzen Leben müde. Der intellektuelle und der geistige Mensch in ihm lagen im Schlummer wie bei einem Kindchen. Er war nur auf jene unschuldige und unwirksame Weise unterrichtet worden, in welcher der katholische Priester die Eingeborenen belehrt und durch welche der Schüler nie zu einem bestimmten Grad von Bewußtsein, sondern nur zu einem bestimmten Grad von Vertrauen und Ehrfurcht erzogen wird, durch welche auch das Kind nie zum Mann gemacht wird, sondern Kind bleibt. Als die Natur ihn schuf, gab sie ihm einen kräftigen Körper und Zufriedenheit für seinen Lebensweg mit und stützte ihn an beiden Seiten mit Ehrfurcht und Vertrauen, damit er seine siebenzig Jahre verbringen möge wie ein Kind. Er war so urwüchsig und harmlos, daß es seinem Nachbar gerade so schwer wurde mit ihm näher bekannt zu werden wie mit einem Murmeltier. Er mußte ihn enträtseln, gerade so mühsam wie ich. Er wollte keine Rolle spielen. Die Menschen gaben ihm seinen Arbeitslohn und verhalfen ihm auf diese Weise zu Kleidung und Nahrung. AberAnsichten tauschte er nie mit ihnen aus. Er war so einfach und demütig von Natur aus – wenn der demütig genannt werden kann, der nie etwas erstrebte – daß die Demut keine auffallende Eigenschaft an ihm war; auch kam sie ihm selbst nicht zum Bewußtsein. Klügere Menschen waren für ihn Halbgötter. Wenn man ihm erzählte, daß solch einer kommen würde, gab er deutlich zu verstehen, daß so etwas Gewaltiges nichts mit ihm gemeinsam haben würde, sondern alle Verantwortlichkeit auf sich selbst laden und ihn der Vergessenheit, wie bislang, überlassen müsse. Er hörte nie ein lobendes Wort. Schriftsteller und Priester wurden hauptsächlich von ihm verehrt. Ihre Taten waren Wunder. Als ich ihm mitteilte, daß ich ziemlich viel schreibe, glaubte er lange Zeit, ich meine das Schreiben mit der Hand; er schrieb selbst eine halbwegs gute Handschrift. Manchmal fand ich den Namen seiner heimatlichen Gemeinde mit dem Akzent auf der richtigen Silbe schön in den Schnee am Wegesrand geschrieben. Ich wußte dann, er war vorübergekommen. Ich fragte ihn, ob er je gewünscht habe seine Gedanken niederzuschreiben. Er gab zur Antwort, daß er Briefe für diejenigen, die dazu nicht imstande waren, gelesen und geschrieben habe; indessen: Gedanken zu schreiben habe er nie versucht. Nein, das könne er nicht, er wisse auch nicht, wie er anfangen solle – es würde ihn umbringen; und dann müsse man doch auch zu gleicher Zeit auf das Buchstabieren acht geben.
Ich war dabei, als ein hervorragend begabter Mensch und Reformator ihn fragte, ob er sich die Welt nicht anders wünsche. Er antwortete in seinem kanadischen Akzent aus vollem Halse lachend und ohne zu wissen, daß diese Frage je vorher gestellt worden war: "Nein, ich bin mit ihr ganz zufrieden." Die Unterhaltung mit ihm konnte in einem Philosophen manchen Gedankengang anregen. Ein Fremder konnte glauben, er wisse nichts von den Dingen im allgemeinen. Ich aber sah bisweilen in ihm einen Menschen, den ich nie zuvor gesehen hatte und ich wußte nicht, ob er so weise wie Shakespeare oder so harmlos dumm wie ein Kind sei – ob ich ihn für zart und poetisch empfindend oder für ein beschränktes Wesen halten sollte. Ein Dorfbewohnersagte mir, er habe den Kanadier einst gesehen, als dieser vor sich hinpfeifend durch das Dorf geschlendert sei: da habe er auf ihn den Eindruck eines verkleideten Prinzen gemacht.
Seine einzigen Bücher waren ein Almanach und eine Arithmetik. Das Rechenbuch kannte er ganz genau. Der Almanach war eine Art Konversationslexikon für ihn; er glaubte, darin wären die Grundbegriffe des gesamten menschlichen Wissens enthalten. In gewissem Sinne ist das ja auch der Fall. Ich suchte mit Vorliebe seine Ansichten über die verschiedenen Reformen der Gegenwart zu erfahren: immer betrachtete er sie vom einfachsten und praktischen Standpunkte aus. Er hatte bislang nichts davon gehört. Ob er ohne Fabriken sich behelfen könne, fragte ich ihn? Er habe einen hausgesponnenen, grauen Vermontanzug, war die Antwort, und der sei gut. Ob er Tee und Kaffee entbehren könne, und ob dies Land noch andere Getränke als Wasser liefere? Er habe die Nadeln der Hemlockstanne in Wasser eingeweicht, den Abguß getrunken und gefunden, daß er an heißen Tagen zuträglicher sei als Wasser. Als ich ihn fragte,
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