Waldesruh
Kinder nicht einfach auf andere abwälzen«, schimpfte Janna, nun in Fahrt gekommen. »Oma hat mal gesagt, die Mütter früherer Generationen hätten weit Schlimmeres durchmachen müssen und die hätten sich keine Depressionen erlauben können.«
Jannas Mund wurde zum Strich und Emily dachte, dass Janna ihrer Großmutter, wie Marie sie beschrieben hatte, wohl recht ähnlich war. Hinter der Fassade von Lockerheit und Leichtsinn steckten ein zäher Wille und eine Härte, die man ihr auf den ersten Blick gar nicht zutraute.
Vielleicht, überlegte Emily, weil Janna schon länger unter der Familientragödie litt. Sie erinnerte sich an Jannas Ausbruch im Garten, als sie überlegt hatten, was zu tun war. Vermutlich war sie es, die am längsten im Heim gewesen war. Und nun war die Verantwortung für ihre Geschwister von ihrer Großmutter auf sie übergegangen. Ganz schön viel für eine Sechzehnjährige, fand Emily.
»Marie sucht immer nach Entschuldigungen, was Mama angeht«, erklärte Janna. »Auch wenn sie so klug ist, sie ist einfach viel zu weich. Wenn sie durch die Stadt geht, würde sie am liebsten ihr ganzes Geld an die Penner verteilen, weil die ihr so leidtun. Nur ich tu ihr nie leid«, fügte Janna hinzu. Sie schnaubte abfällig.
Emily hatte keine Lust, sich anzuhören, wie Janna über Marie lästerte, es wäre ihr wie Verrat vorgekommen. Also wechselte sie lieber schnell das Thema.
»Meinst du wirklich, dass ihr euren Plan durchhalten könnt, bis du achtzehn wirst?«, fragte sie. Janna zuckte die Schultern. »Was weiß ich? Wenn wir es
nicht versuchen, erfahren wir es jedenfalls nie. Und für Moritz ist jeder Tag, den er nicht in einem Heim oder bei Pflegeeltern verbringt, ein gewonnener, Tag, so sehe ich das.«
»Das stimmt.« Emily nickte und warf Janna einen Blick zu. Ihre Augen waren hinter der dunklen Sonnenbrille verborgen. »Sag mal, willst du wirklich mal Schauspielerin werden?«, fragte sie.
»Ja, klar.«
»Die Schulen sollen ganz schön teuer sein. Und die nehmen auch nur ganz wenige auf, habe ich gehört.«
Janna nahm die Brille ab und schüttelte trotzig ihre blonde Mähne. »Ja, und? Soll ich deswegen jetzt schon meinen Traum aufgeben?«
»Nein, natürlich nicht.«
Der Kellner brachte ihre Bestellung.
»Was willst du mal werden?«, fragte Janna.
»Vielleicht Ärztin oder Tierärztin.«
»Oje. Tierärztin...Den ganzen Tag kranke Tiere um mich herum, das könnte ich nicht ertragen«, meinte Janna und Emily war irgendwie froh, doch noch eine weiche Seite an Janna entdeckt zu haben.
»Kranke Menschen schon?«, fragte sie.
»Die eher.« Janna winkte über Emilys Kopf hinweg. »Hi, was macht ihr denn hier?«
Emily wandte sich um. Ein breiter Mund grinste sie unter einem Strohhut hervor an. »Wir flanieren durch unser bezauberndes Örtchen.«
»Lennart und Stefan«, stellte Janna die beiden Jungs vor. »Das ist Emily. Eine Freundin.«
Dass Janna sie als Freundin vorstellte, schmeichelte Emily. Ob man sie wohl schon auf fünfzehn schätzte? War ja nicht so lange hin. Vergiss es, dachte Emily. Noch nie hat dich jemand älter geschätzt.
»Wir kennen uns – flüchtig«, erklärte Emily und verkniff sich ein Grinsen. Auch Lennart trug eine dunkle Sonnenbrille, was Emily schade fand, denn sie mochte seine Augen.
Mist! Warum hatte sie bloß vorhin nicht mehr geduscht? Ihr Haar war bestimmt total strähnig und ihrem T-Shirt hätte eine Wäsche auch nicht geschadet. Außerdem war es alt und so eng, dass ihre nicht vorhandene Oberweite besonders gut zur Geltung kam.
Mist, Mist, Mist!
Aber woher hätte sie ahnen sollen, dass der Nachmittag einen solchen Verlauf nehmen würde? Wer stylte sich schon für den Gang zum Glascontainer? Janna natürlich! Die trug Lippenstift und ein bauchfreies T-Shirt, das ihre spitzen Hüftknochen und ihr Bauchnabel-Piercing zur Schau stellte.
Die zwei Neuankömmlinge setzten sich zu ihnen.
»Du siehst aus wie Kate Moss«, sagte Stefan zu Janna.
»So dünn bin ich nun auch wieder nicht«, winkte Janna mit geschmeicheltem Blick über die Brille hinweg ab.
»Nein, aber so fertig«, sagte Lennart und die beiden kriegten sich fast nicht mehr ein vor Lachen.
»Blöde Ärsche«, konstatierte Janna.
»Wir lieben dich auch!«
»Du bist zu dürr«, sagte Lennart. »Deine Schenkel sehen aus wie abgenagt.«
»Möchte wissen, was dich meine Schenkel angehen!«
So ging es eine Weile hin und her. Emily mischte sich lieber nicht ein, sie gehörte nicht zur
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