Waldesruh
denn ihre Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefesselt: dem, was nicht da war: Das Album wies Lücken auf. Etliche Fotos waren nachträglich daraus entfernt worden, es hingen sogar noch Reste des Klebstoffs am Papier. Ein Foto war zur Hälfte abge schnitten und wieder eingeklebt worden, der Rest zeigte Frau
Holtkamp mit ihrer Tochter vor einer blühenden Hecke.
»Ihr Mann fehlt«, stellte Emily fest. »Euer Großvater.«
»Es gibt auch sonst nirgends ein Bild von ihm«, sagte Janna, die wieder ins Zimmer gekommen war, und Emily erkundigte sich: »Wann ist er eigentlich gestorben?«
Janna rechnete: »Mama war neunzehn, als er starb. Demnach war das... 1986. Er hatte einen guten Job bei der Bahn. Viel mehr weiß ich nicht von ihm.«
»Er war viel älter als Oma«, sagte Marie. »Mama sagte mal, man hätte ihn oft für ihren Großvater gehalten. Wir haben übrigens auf dem Dachboden einen Zylinder und eine uralte Eisenbahn von ihm gefunden.«
Janna schüttelte den Kopf. »Nein, die Sachen sind nicht von ihrem Mann. Sondern von Omas Vater, das hat sie mir mal erzählt. Auch die Werkbank im Gartenhaus stammt noch von ihm.«
»Dann hat sie also von ihrem Mann nur das Gewehr behalten«, sagte Marie.
Emily fiel etwas ein. »Was ist mit dem Gebiss?«
»Dem – was?«, fragte Janna.
»In ihrer Wäschekommode haben wir ein Gebiss gefunden.«
»Ein Gebiss?«, wiederholte Janna ungläubig. »Wo ist das jetzt?«
»Ich habe es.« Marie sah Emily grimmig von der Seite an.
»Wozu in aller Welt hebst du ein Gebiss auf? Das ist ja eklig.« Janna zog eine Grimasse.
»Wozu hat Oma es aufgehoben?«, fragte Marie zurück.
»Ist doch jetzt egal«, wehrte Emily ab.
Janna wies auf den Wust an Papier: »Hier sind Unterlagen über den Hauskauf. Sie hat es ein paar Monate nach seinem Tod gekauft, als ob sie ein neues Leben anfangen wollte, einen dicken Schlussstrich unter ihr altes ziehen.«
»Sieht ganz so aus«, sagte Emily und sah sich dabei um.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch hier im Wohnzimmer keine Fotos aufgestellt waren, weder auf dem Kaminsims noch auf den niedrigen Bücherregalen. Emily zog die Nase kraus. »Hier riecht was.«
»Die Fischstäbchen!« Janna rannte in die Küche, wobei sie rief: »Stellt mal Teller auf den Tisch. Moritz, wasch dir die Hände, bitte.«
Wundersamerweise gehorchte Moritz ohne Widerrede.
»Gibt’s hier Ketchup?«, wollte Emily wissen.
»Im Kühlschrank«, sagte Janna. »Wozu?«
»Angebrannte Fischstäbchen kriege ich nur mit Ketchup runter«, erklärte Emily, während sie vorsichtig auf den Flaschenboden klopfte. »Scheiße!« Ein Schwall roter Soße hatte sich explosionsartig über die Fischstäbchen ergossen.
»Scheiße sagt man nicht«, quakte Moritz.
»Dann hör nicht hin«, entgegnete Emily muffig.
»Das sieht sehr nach moderner Kunst aus auf deinem Teller«, bemerkte Janna.
»Wo wir gerade von Kunst sprechen: Heute um drei Uhr fängt der Ferienmalkurs an«, erinnerte Emily Marie. »Kommst du mit?«
»Och, nee, ich mag nicht in die Schule, ich hab Ferien«, maulte Marie, ehe sich ihre Miene aufhellte: »Obwohl . . . ich habe da vielleicht eine Idee...«
Die Malstunde war eine willkommene Abwechslung für Emily, die in den letzten Tagen kaum zum Zeichnen gekommen war. Frau Kramp hatte kein Thema vorgegeben, man durfte malen oder zeichnen, was man wollte.
Emily versuchte sich an einem Selbstporträt und Marie zeichnete einen Hund. Als Frau Kramp durch die Reihen ging, blieb sie an Maries Tisch stehen und rief erfreut: »Der sieht ja aus wie mein Ringo!«
»Das soll er auch sein.«
»Dann mach die Schnauze etwas länger«, riet die Lehrerin. »Er ist ja kein Mops.«
Nach der Stunde trödelten Marie und Emily absichtlich so lange herum, bis die anderen zwölf Schüler gegangen waren.
»Du kannst wirklich gut zeichnen, Marie«, lobte Frau Kramp. »Man merkt, dass du deine Umwelt genau beobachtest.«
»Äh, danke«, sagte Marie verlegen. »Aber nicht so gut wie Emily.«
»Man kann nicht überall die Beste sein. Was sind denn deine Lieblingsfächer?«
»Mathe und Physik.«
»Endlich mal ein Mädchen, das sich für Naturwissenschaften begeistert.« Frau Kramp verzog das Gesicht und lachte. »Muss ich jetzt sagen – obwohl ich selbst darin eine Niete war.«
»Frau Kramp, wir wollten Sie mal was fragen...«
»Nur zu.«
»Unsere Oma ist aus Hamburg zurück und wir haben gemeinsam am Wochenende unseren Dachboden ausgemistet. Dabei sind zwei Bilder aufgetaucht.
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