Waldesruh
arme Maus«, heulte Moritz.
»Du kannst sie ja im Garten beerdigen.«
»Aber nicht jetzt!«, sagte Marie.
Sie fanden einen Koffer mit alten Puppen und abgegriffenen Stofftieren, die Moritz inspizierte, nachdem er genug davon hatte, die anderen zu erschrecken. »Die haben sicher mal Mama gehört«, vermutete Marie und drohte Moritz. »Wenn du eines davon kaputt machst, kannst du was erleben!«
Es gab eine Modelleisenbahn, sorgsam verpackt in beschriftete Kartons: Loks, Waggons, Gleise, Häuser, Steuerung...
Emily wischte sich eine Spinnwebe aus dem Gesicht. »Sammler zahlen einen Haufen Geld für so alte Eisenbahnen.«
»Du meinst, ein fanatischer Sammler von Modelleisenbahnen hat Oma bedroht, weil sie das Ding nicht verkaufen wollte?«
Emily kicherte. »Nein. Aber ihr könnt sie verkaufen, wenn ihr mal knapp bei Kasse seid.«
»Hier hab ich was!«, rief Marie und zog zwei Bilder hervor, die, von einem Laken verhüllt, hinter einem Stapel Badezimmerfliesen gestanden hatten. Es waren Ölbilder in dicken, verschnörkelten Rahmen. Marie hielt sie ins Licht. Das eine zeigte eine Winterlandschaft: An einem verschneiten See stand ein Rudel Rotwild, der Leithirsch, erkennbar am prächtigen Geweih, reckte den Kopf in die Höhe und röhrte wohl gerade, während die Damen des Rudels zierlich ästen oder die Lauscher in den Wind stellten. Das andere Bild zeigte ein ähnliches Motiv, nur ohne Hirsche und im Sommer bei Sonnenuntergang – oder Sonnenaufgang, so genau ließ sich das nicht feststellen.
»Ob die wertvoll sind?«, fragte Marie.
»Keine Ahnung«, gestand Emily. »Komm, wir zeigen sie Janna. Vielleicht hat die ja auch was gefunden.«
Janna saß an Frau Holtkamps Schreibtisch inmitten von Papieren.
»Achtung, hier kommt Kunst«, rief Marie schon auf der Treppe. Janna unterbrach ihre Arbeit für die Betrachtung der Gemälde.
»Also, wenn ihr mich fragt, dann ist das grandioser Kitsch«, urteilte sie.
»Hast du wenigstens was Interessantes gefunden?«, wollte Marie wissen.
»Kontoauszüge, Briefe von Behörden und Versicherungen und jede Menge Rechnungen. Bezahlt«, fügte sie hinzu.
»Kein Schlüssel zu einem Schließfach, in dem eine Handvoll Diamanten liegen?«
»Nur eine Handvoll alter Schlüssel zu Fahrradschlössern oder Ähnlichem und zu Autos, die es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gibt.«
»Kann es nicht sein, dass einer davon zu einem Bankschließfach gehört?«, fragte Emily.
»Ein Schließfachschlüssel hat einen doppelten, mehrfach gezackten Bart und eine eingravierte Nummer«, entgegnete Janna. Niemand fragte, woher sie das wusste. Vielleicht von Axel.
»Mich hat viel mehr verwundert, was ich nicht gefunden habe«, verkündete Janna geheimnisvoll.
»Wie meinst du das?«, fragte Marie.
»Man sollte doch meinen, in einem so langen Leben sammelt sich so einiges an Persönlichem an. Briefe, Souvenirs, Postkarten, Krimskrams eben, an dem Erinnerungen hängen. Und Fotos. Aber davon war kaum etwas im Schreibtisch. Nur das hier.«
Sie wies auf ein Fotoalbum mit rotem Ledereinband, das sie auf den Couchtisch gelegt hatte. »Schaut mal rein.«
Marie und Emily setzten sich auf das Sofa. Auch Moritz wollte das Album sehen und drängelte sich zwischen sie.
Es war das Kinderalbum der Mutter der Weyer-Geschwister, Anneke Weyer, geborene Holtkamp. Das erste Foto war kurz nach ihrer Geburt aufgenommen worden, 1967, noch in Schwarz-Weiß. Es zeigte ein rundliches Baby, das aussah wie alle Babys. Danach folgten langsam farbige Bilder: Anneke auf dem Arm ihrer Mutter – Frau Holtkamp war wunderschön gewesen, fand Emily –, Anneke im Krabbelalter, beim Schwimmen, bei der Einschulung, in einem rosa Ballettdress...Das dünne, transparente Seidenpapier zwischen den Seiten raschelte bei jedem Umblättern. Emily sah sich gern alte Bilderalben an, sie studierte dann die Mode der jeweiligen Epoche, die Frisuren, die Art, wie die Leute posierten. Sie fand Bilder auf Papier schöner als die Diashow am PC ihres Vaters.
Das letzte Bild war das Hochzeitsfoto. Eine schlichte Braut, schmal und mit großen Augen, in einem weißen Kostüm neben einem sympathischen blonden Mann, der Jannas Gesichtszüge hatte. Marie ähnelte mehr ihrer Mutter, vor allem das dunkle, lockige Haar und die ausdrucksvollen braunen Augen hatte sie von ihr.
»Von uns Kindern gibt es auch ein Album«, rief Janna, die in die Küche gegangen war und gerade zwei Packungen Fischstäbchen aufriss.
Aber Marie und Emily achteten nicht darauf,
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