Waldesruh
Schlüsselpositionen haben sich an der Notsituation der Juden bereichert und ihr Vermögen eingesackt.«
Emily hatte schweigend zugehört. Ihre nächtliche Unterhaltung mit Marie in der Küche kam ihr in den Sinn. Wie hatte Anneke Holtkamp noch gleich ihren Vater genannt? Ein rechtes Arschloch, hatte Marie gesagt. Vor diesem Hintergrund ergab das einen ganz anderen Sinn.
»Hier ist ein Brief aus Chile«, unterbrach Marie. »Der ist erst drei Monate alt.«
Chile, April 2008
Sehr geehrte Frau Holtkamp, nach einigen Bemühungen unsererseits haben wir Ihre Adresse herausfinden können. Sicherlich wundern Sie sich, Post aus Chile zu bekommen. Meine Schwester und ich sind die leiblichen Kinder von Heinrich Schillinger, der seinen Namen aus politischen Gründen ändern musste. Leider ist unser Vater vor wenigen Tagen im gesegneten Alter von fünfundneunzig Jahren verstorben. Auf dem Totenbett hat er uns von einem Bild berichtet, das er im Jahr 1940 in Deutschland erstanden und Ihrem Gatten zur Aufbewahrung überlassen hat. Wie mein Vater mir mitteilte, ist Ihr Gatte jedoch bereits 1986 verstor ben. Es handelt sich bei dem Bild um das Gemälde »Der Clochard« von Pablo Picasso, das um 1904 entstanden ist. Eine Fotografie des Bildes liegt bei.
Wir, die rechtmäßigen Erben von Heinrich Schillinger, möchten Sie hiermit dringend ersuchen, uns unser Eigentum zurückzugeben. Selbstverständlich werden wir Sie für die Mühe der Aufbewahrung des Bildes angemessen entschädigen. Ein Beauftragter unserer Familie wird sich in den nächsten Wochen mit Ihnen in dieser Angelegenheit in Verbindung setzen.
Hochachtungsvoll,
Geschwister D.
»So, so, wir haben es also mit der gierigen Meute der Schillinger-Erben zu tun.« Janna seufzte: »Das ist ja immerhin schon etwas – den Feind zu kennen.«
»Was heißt kennen? Die Feiglinge haben nicht mal ihre Namen genannt oder ihre Adresse«, stellte Emily nach einem Blick auf das Schreiben fest.
»Wahrscheinlich ist D. auch noch falsch«, schnaubte Marie.
»Die wollen halt nicht, dass ihre Nachbarn erfahren, dass ihr Vater ein alter Nazi war, der seinen Namen aus politischen Gründen ändern musste«, zitierte Janna zynisch. »Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Nazis nach Südamerika geflohen, wo man die meisten von ihnen nie erwischt hat. Die leben dort bis zu ihrem Tod ganz unbehelligt.«
»Sauerei, so was«, murmelte Emily und las aus dem Brief vor: »Nach einigen Bemühungen unsererseits haben wir Ihre Adresse herausfinden können...Das klingt doch schon wie eine Drohung, oder nicht? Wir wissen, wo du wohnst...«
»Ja, leider wissen sie es ja auch«, sagte Janna.
»Und was jetzt?«, fragte Marie. »Das glauben die uns doch nie, dass Oma das Bild an diese Weizenkorns oder Albays oder wie sie heißen zurückgegeben hat!«
»Nein«, seufzte Janna. »Sonst wäre das alles wohl nicht geschehen. Mein Gott, wenn wir nur wüssten, ob es Moritz einigermaßen gut geht...« Janna sprang auf und schaute aus dem Fenster. »Ich mach mir solche Vorwürfe!«
»Zeigt ihnen doch die Briefe«, schlug Emily vor. »Dann müssen sie es glauben.«
»Das hat Oma doch sicher schon versucht«, widersprach Janna. »Außerdem – Briefe kann man fälschen.«
»Bilder auch«, sagte Marie nachdenklich und plötzlich hellte sich ihre Miene auf.
Janna fuhr herum. »Du meinst . . .?« Ihre Augen leuchteten, als ihr Blick auf Emily fiel.
»Was ist denn? Was schaut ihr so komisch?«
»Ich habe da eine Idee«, sagte Marie atemlos.
»Eine gute Idee!« Jannas Stimme klang erregt.
Emily blickte verwirrt von einer zur anderen, dann dämmerte es ihr.
»Oh nein. Ihr seid verrückt. Ich kann doch keinen Picasso fälschen.«
»Emily! Der Meister wird’s dir verzeihen – immerhin geht es um das Leben unseres Bruders«, meinte Janna ungeduldig.
»Aber das merken die doch!«, protestierte Emily.
»Wieso denn? Die haben auch nur Fotos zum Vergleich«, widersprach Janna und Marie ergänzte: »Die haben wahrscheinlich sogar nur das Foto in Schwarz-Weiß, von dem sie einen Abzug an Oma geschickt haben. Wer hat denn 1940 schon Farbfotos gemacht?«
»Stimmt! Die Geschwister D. haben das Original noch nie gesehen!«, rief Janna aufgeregt.
»Außerdem«, fuhr Marie fort, »haben wir es hier garantiert mit Handlangern zu tun. Mörder, Erpresser, Leute fürs Grobe, so wie dieser Reschke. Die haben keine Ahnung, wie man einen echten Picasso von einem falschen unterscheidet. Und – das ist das Allerbeste – sie
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