Waldesruh
denken, sie hätten es mit Kindern zu tun. Uns trauen sie so etwas bestimmt nicht zu.«
Janna sah Emily flehend an. »Emily, du hast gesagt, du würdest uns helfen. Jetzt kannst du uns helfen. Denk an Moritz, er schwebt in Lebensgefahr! Du musst dieses Bild malen, und zwar bis morgen! Es reicht, wenn es nur so ähnlich aussieht wie das auf dem Schwarz-Weiß-Foto.«
In Emilys Kopf begann sich alles zu drehen. Das durfte doch nicht wahr sein! Hing das Leben von Moritz nun von ihr ab?
»Bitte«, flehte Marie. »Ich würde es ja selbst machen, aber ich kann das nicht so gut wie du.«
Emily holte tief Atem, dann sagte sie: »Ich muss nach Hause, meine Farben holen.«
Als Emily ihr Zimmer betrat, merkte sie auf einmal, wie sehr sie ihr Zuhause vermisst hatte. Ihre Bücher, ihre Bilder, die Staffelei, die Stofftiere, die Möbel – das alles atmete Geborgenheit. Sogar ihre Schulmappe erschien ihr wie eine alte Freundin und die eher langweilige Aussicht auf den Garten der Nachbarn kam ihr mit einem Mal heiter und freundlich vor. Sie war mit dem Fahrrad in Rekordzeit hierhergefahren, doch nun legte sie sich für einen kleinen Moment auf ihr Bett und genoss die vertraute Festigkeit der Matratze, die glatte Kühle der Bettwäsche. Sie schloss die Augen, roch den Duft nach Wäsche, Farben und dem Öl mit Orangenduft, mit dem ihre Mutter die Holzmöbel abrieb. Fast glaubte sie zu hören, wie im Nebenzimmer ihr Vater auf der Tastatur herumklackerte. Und war das da draußen nicht die Stimme ihrer Mutter, die sich mit der Nachbarin unterhielt? Wider besseres Wissen stand Emily auf und stürzte ans Fenster. Nein, natürlich war da niemand. Ihre Eltern befanden sich auf See, erst gestern hatte sie mit ihnen telefoniert.
Emily schluckte schwer. Mit einem Mal verspürte sie den Wunsch, hierzubleiben, unter ihre Bettdecke zu kriechen, einzuschlafen, um am nächsten Morgen festzustellen, dass die Ereignisse der letzten drei Wochen nur ein wirrer, schrecklicher Traum gewesen waren.
Wenn sie doch nur jemanden hätte, dem sie sich anvertrauen konnte! Kurz dachte sie an Lennart und tastete unwillkürlich nach ihrem Handy. Als er sie das letzte Mal angerufen hatte, war das Gefühl überwältigend gewesen, genau im richtigen Moment mit der richtigen Person zu sprechen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Moritz nicht entführt worden wäre. Vielleicht hätte sie dann Lennart die ganze Geschichte gebeichtet.
Aber es war anders gekommen. Was hatte er wohl gedacht, als sie so abrupt aufgelegt hatte? In der Aufregung hatte sie nicht mehr daran gedacht, ihn zurückzurufen, und jetzt war der richtige Augenblick verstrichen.
Sie stöhnte gequält auf. Die ganze Sache war ihr längst über den Kopf gewachsen. Ihnen allen, wenn sie ehrlich waren. Wie hatte sie nur Marie und Janna schwören können, dass sie weder ihre Eltern noch die Polizei anrufen würde? Was, wenn der Bluff mit dem Bild schiefging? Hatte sie dann das Leben eines siebenjährigen Jungen auf dem Gewissen, weil sie geschwiegen hatte, und das wegen eines kindischen Schwurs? Jetzt war die Gelegenheit, die Polizei anzurufen. Oder wenigstens ihre Eltern.
Aber was, wenn sie ihr Versprechen brach und Moritz dadurch zu Schaden kam? Vor Emilys innerem Auge erschien ein Briefumschlag, darin ein blutiger, abgeschnittener Kinderfin-ger...Sie schüttelte sich. Reiß dich zusammen, Emily! Du musst dieses Bild malen. Danach kannst du immer noch versuchen, Janna und Marie zu überzeugen, die Polizei einzuschalten. Oder es selbst tun.
Ja, so werde ich es machen, beschloss sie. Die Vertagung der Entscheidung gab ihr neue Kraft. Sie überlegte einen Moment, ob sie das Bild nicht lieber hier malen sollte. Hier herrschte Ruhe, hier konnte sie sich am besten konzentrieren. Andererseits wollte sie nahe am Geschehen sein. Sie musste dabei sein, wenn die Entführer wieder anriefen, sie konnte Marie und Janna nicht allein lassen.
Also zerlegte sie ihre Staffelei, packte alles, was sie an Ölfarben und Pinseln und Leinwänden finden konnte, zusammen und verließ schweren Herzens ihr Zuhause.
Als Emily mit ihrer Ausrüstung in Außerhalb 5 eintraf, war es Mittag. Janna hatte, um sich abzulenken, einen Eintopf aus Resten zubereitet, aber niemand war hungrig.
»Ich fange lieber gleich an.« Emily schaffte ihre Malutensilien in Jannas Zimmer. »Dort ist das beste Licht.« Der Raum hatte ein Fenster nach Süden und eines nach Osten. »Und tut mir einen Gefallen – schaut nicht alle paar Minuten zu mir
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