Waldmeister mit Sahne
hustend verließ er das Schlafzimmer und schlurfte die Treppe hinunter. Aus der Küche drangen die Fetzen einer Unterhaltung. Die Tür stieß er mit letzter Kraft auf. Das Gespräch verstummte, als sich die Blicke der Versammelten auf ihn richteten. Jo und seine Mutter starrten ihn genauso verblüfft an wie eine ältere Frau in einem grauen Hosenanzug, auf deren Nase eine Brille mit halben Gläsern saß. Den Tod hatte sich Michael zwar anders vorgestellt, trotzdem war es nett, dass er mal vorbeischaute. Seiner Meinung nach war er bloß ein bisschen zu früh.
„Es ist nicht gerade höflich, einen Sterbenden derartig anzuglotzen“, sagte Michael mit kratziger Stimme und öffnete den Schrank, in dem die Taschentücher lagerten. Alles leer. Erneut zog er Rotz die Nase hoch, was nicht mehr sonderlich fruchtete. Daher wischte er sich die mittlerweile wunde Nase mit dem Ärmel ab.
„Micha?“
Taumelnd drehte er sich um. Jo hielt ihm eine Familienpackung Tempos entgegen. Offenbar war er einkaufen gewesen und hatte Nachschub besorgt, ohne ihn sofort wegzuräumen. Michael umklammerte die Packung und wollte gerade abdrehen, um zurück ins Bett zu wanken, da erklärte Jo: „Micha, das ist Frau Talert.“ Er nickte bedeutungsvoll in Richtung des Todes.
„Ich sterbe“, sagte Michael angesichts des strengen Blickes, der über die Brille hinweg auf ihn fiel.
„Das sehe ich, Herr Döring“, wurde ihm geantwortet. Dann musste er derartig husten, dass es ihm beinahe das Gebiss herausschüttelte.
„Entschuldigen Sie, Frau Talert. Mein Sohn hat eine leichte Erkältung. Er ist allerdings immer etwas wehleidig, wenn er krank ist. Micha, geh wieder rauf. Ich bringe dir gleich eine Suppe und eine frische Wärmeflasche, okay?“
„Ein Erschießungskommando wäre nicht schlecht“, murmelte Jo hinter ihm. „Um ihm den Gnadenschuss zu verpassen.“
Michaels Gesicht wurde noch leidender. Würdevoll trat er den Rückzug an, doch da löste sich der nachlässig gebundene Gürtel des Bademantels. In dem Versuch seiner Mutter den Anblick seines liebsten Spielzeuges zu ersparen, ließ er die Taschentücher fallen und hielt stattdessen den Bademantel zu. Auf einmal stand Jo vor ihm und drängte ihn mit gnadenloser Gewalt aus der Küche.
„Micha, musst du dich so daneben benehmen?“, zischte er ärgerlich.
„Meine Taschentücher …“
„Die hole ich dir gleich. Geh endlich rauf. Und bleib da, verdammt.“
Was hatte er denn getan? Schnüffelnd und wegen Jos gemeinen Tons ein wenig beleidigt, kuschelte er sich im Bett unter die Decke. Kurze Zeit später stürzte Jo ins Schlafzimmer und warf ihm die Taschentücher ins Gesicht.
„Du Vollpfosten! Weißt du eigentlich, wer das da unten ist?“
„Der Tod? Avon-Beratung? Zeuge Jehovas?“ Ungeschickt riss Michael die Familienpackung auf und die kleinen Päckchen verteilten sich über das Bett.
„Das ist die Sozialarbeiterin des Gerichts, Michael. Und du ziehst da unten eine derartige Show ab.“
Lautstark schnäuzte er sich und sagte hinterher: „Mir geht es sterbenselend und du maulst mich an.“
„Micha, du hast ein bisschen Husten und Schnupfen …“
„Ich glühe vor Fieber! Wenn ich sterbe, hast du mich auf dem Gewissen, weil du mich mit deiner dämlichen Erbsenpistole in die Eiseskälte gejagt hast.“
„Wie du dich sicherlich erinnerst, haben wir vorhin deine Temperatur gemessen. 38 Grad kann man kaum Fieber nennen. Du übertreibst maßlos. Außerdem habe ich dich nicht in die Kälte gejagt. Du Schisser bist davongerannt.“ Jo grinste fies. Theatralisch zog sich Michael ein neues Tempo aus der Packung und rotzte herzhaft hinein. Es bekam natürlich ein Loch und er hatte den ganzen Glibber an den Fingern. Es war nicht sein Tag. Gewiss nicht.
„Kannst du mir mal verraten, wo du deinen Schlafanzug gelassen hast? Der hätte in der Küche einiges retten können.“
„Durchgeschwitzt.“ Michael deutete mit der glibbrigen Schnodderhand kläglich auf den Wäschekorb in der Ecke und versuchte ein weiteres Taschentuch mit den letzten zwei sauberen Fingern aus der Packung zu schütteln.
„Mann, Micha. Du besitzt mehr als nur den einen.“ Jo öffnete den Schrank und holte einen frischen Pyjama hervor.
„Zieh den an, damit du nicht erneut irgendjemandem dein Gehänge zeigst.“
„Man hat was gesehen?“, fragte Michael nun erschrocken. „Genug.“ Jo grinste abermals und warf ihm den Schlafanzug zu. Oh Gott, wie peinlich! Allerdings nicht mehr zu ändern.
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