Waldos Lied (German Edition)
sich.
Meine Augen suchten die Gegend ab. Doch nirgends sah ich eine Felsenspitze mit einem Kreuz. Da zügelte ich mein Pferd und versuchte, einen der Fischer nach dem Weg zu fragen. Er schaute mich verständnislos an, als ich mich in der lateinischen Sprache an ihn wandte. Bei dem Wort »Kruzifix« hellte sich sein misstrauisches Gesicht dann aber etwas auf, und er wies mir mit dem Zeigefinger wortlos die Richtung.
Ich erkannte die Felsenspitze sofort als den Ort meiner Vision. Sie lag ein ganzes Stück außerhalb des Dorfes. Wilde, zerklüftete Felsen türmten sich dort und ragten weit ins Meer hinein. Und auf dieser Spitze, auf einem kleinen Plateau aus Sand und Erde, das spärlich mit einigen grünen Pflanzen bewachsen war, stand das Kreuz und strebte von seinem steinernen Fuß aus vor dem Hintergrund der verglühenden Sonne schwarz in den Himmel hinauf. An seinem Sockel lehnte kein Schwert. Aber das hatte ich eigentlich auch nicht erwartet, obwohl es ein Teil meiner Vision gewesen war.
In diesem Moment nahm ich zum ersten Mal das Donnern der Brandung wahr. Dann sah ich die Wogen mit ihren weißen Reitern, die sich in die Felsen stürzten. Das Wasser spritzte hoch auf, und zwischen den Felsen kochte und brodelte die Gischt. Ich sah, wie sich die Wellen dann erneut auftürmten, um ein weiteres Mal gegen die steilen, zerklüfteten Steine anzudonnern, als wolle das Meer sie mit aller Macht in Stücke brechen. Noch niemals hatte ich eine solch gewaltige Kraft gesehen. Ich fühlte mich klein und unbedeutend an diesem Meer, an dem die Welt endet. Dennoch war ich voller Freude über dieses Zeugnis der Macht des Herrn, der dies geschaffen hatte. Ich schlug die Kapuze zurück und kniete nieder. Und während der Wind mir den Geruch von Meer, Fisch und Tang ins Gesicht blies, vermischte sich meine betende Stimme mit dem Donnern des Meeres und wurde von ihm aufgenommen. Tiefer Frieden breitete sich in mir aus. Alles war gut, wie es war.
»Was wollt Ihr hier?« Das Lärmen der Wellen hatte die Schritte übertönt, die sich mir genähert hatten. Als ich mich umwandte, sah ich hinter mir einen alten Mönch stehen.
»Das Kreuz hat mich gerufen«, erklärte ich ihm, ebenso kurz angebunden.
»Ich sehe trotz des Dämmerlichtes, dass Ihr ein Mönch seid wie ich«, erwiderte er mürrisch. Offenbar war er nicht sehr erfreut über meine Anwesenheit.
»Ich meinte dieses Kreuz«, und wies auf das Himmelszeichen neben uns.
Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Und ich hoffte schon, Ihr seid anders. Es ist eine Schande. Folgt mir, ich habe ein Lager für Euch diese Nacht. Ich habe immer ein Lager bereit. Es gibt so viele Narren auf dieser Welt. Und manchmal glaube ich, sie kommen alle hierher«, murmelte er dann kopfschüttelnd und schlurfte davon.
Ich faßte mein Pferd am Zügel und folgte ihm, verwundert über diesen Empfang. Da sah ich in einiger Entfernung eine einfache Hütte stehen. Dort musste das Lager sein, von dem er gesprochen hatte.
Offensichtlich fand mein Gastgeber, er habe zu meiner Begrüßung eine besonders lange Rede gehalten. Denn er fragte mich noch nicht einmal nach meinem Namen oder woher ich kam. Er nannte mir auch seinen Namen nur widerstrebend, ich verstand ihn kaum. Ich glaube, er sagte Gildas. Auch sonst hatte ich alle Mühe, etwas von ihm zu erfahren. Bis auf eines: dass er Menschen, die den ganzen Boden um dieses Kreuz herum umgepflügt hatten, verabscheut! Da sei kein Schwert.
»Das weiß ich«, erklärte ich ihm. Dann erzählte ich ihm von dem zweifachen Diebstahl und dem Fluch, der auch mein Leben für immer verändert hatte. Ich fand, er hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren. Seine Augen weiteten sich vor Staunen, während er zuhörte.
»Aber warum seid Ihr dann hier? « fragte er mich überrascht.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ihm offen. »Vielleicht, weil hier alles begann. Vielleicht schließt sich hier auch ein Kreis, vielleicht finde ich an diesem Ort einen Hinweis darauf, wo ich weitersuchen kann. Diese Stelle ist der einzige Anhaltspunkt, den ich habe. Außerdem hatte ich eine Vision, der ich folge. Ich vertraue dabei auf den Allmächtigen, der mich leiten wird, damit das Schwert wieder dorthin kommt, wo es hingehört. In ein Haus des Herrn, unerreichbar und verborgen für jene, die sich dadurch Macht und Reichtum erhoffen.«
Damit schien mein Gastgeber einverstanden zu sein. Er nickte zufrieden. »Nun, dann könnt Ihr vielleicht zu Ende führen, woran ich
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