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Walküre

Walküre

Titel: Walküre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Passfotos. Die Augen wirkten tot. Emotionslos. Besonders die des Mädchens in der Mitte. Sylvie hatte das Gefühl, dass sich ihr der Magen umdrehte.
    »Siegfried« hatte ihr mitgeteilt, dass eines der Mädchen der Engel von St. Pauli sei. Und während ihr Blick von einem leeren Gesicht zum anderen glitt, wusste sie, dass er die Wahrheit gesagt hatte.
     
11.
    Emily würde bald da sein. Dann würde alles in seinem Leben wieder einen Sinn erhalten. Peter Claasens hatte Frauen nie verstanden. Und er hatte es auch nie wirklich versucht, einfach weil er es als zu mühsam empfand.
    Er war seit fünfzehn Jahren verheiratet und hatte drei Kinder, zwei davon Töchter; doch die weibliche Welt blieb ein dunkler Kontinent für ihn. Auch seine Frau war ihm weiterhin ein Rätsel. Sie hatte sich aus dem hübschen, stillen, bescheidenen Mädchen, das er unabsichtlich geschwängert hatte, in ein zänkisches Weib verwandelt, das wegen jedes Abends an ihm herumnörgelte, den er, aus geschäftlichen oder anderen Gründen, nicht zu Hause verbrachte. Claasens musste allerdings widerwillig zugeben, dass das Verhalten seiner Frau nicht ungerechtfertigt war. In den anderthalb Jahrzehnten ihrer Ehe war er unablässig fremdgegangen. Allerdings hatte er – und darauf war er stolz – auf Diskretion und Takt geachtet. Seine Frau mochte einen Verdacht hegen, aber mehr nicht. Er war nie so fahrlässig gewesen, ihr konkrete Beweise zu liefern. Andererseits genügte schon sein Aussehen, um Verdacht aufkommen zu lassen.
    Dieser Umstand hatte Claasens stets in Erstaunen versetzt: Warum sahen manche Menschen attraktiver aus als andere? Begehrenswerter? Er war ein intelligenter Mann. Ein sehr intelligenter Mann. Er hatte einen scharfen Verstand und war ein geborener Unternehmer. Ein Raubtier der Geschäftswelt. Aber den meisten fiel es schwer, sich nicht von seiner Erscheinung beeinflussen zu lassen. Im Geschäftsleben grollten ihm andere Männer entweder, oder sie wollten mit ihm gesehen werden, während Frauen ihm gegenüber entweder verlegen oder kokett auftraten. Wenn er nicht auf ihre Flirtversuche reagierte, grollten sie ihm ebenfalls. Aber häufig hatte er reagiert. Natürlich war sein Äußeres hilfreich gewesen. Als Betriebswirtschaftsstudent hatte er sein Einkommen durch die Arbeit als Fotomodell aufgebessert. Jeder Posten, für den man ihn zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hatte, war ihm angeboten worden. Und obwohl er damals noch nicht viel Geld verdiente, war er natürlich in eine trendige Gruppe aus Blankenese aufgenommen worden. Blankeneser Mädchen schwammen gewöhnlich im Geld. Peter Claasens hatte herausgefunden, dass das Glück wahrhaftig den Schönsten hold ist.
    Aber durch sein Aussehen war er auch von aufrichtigen Emotionen ferngehalten, isoliert worden. Und nun stand er in der oberen Etage des fast fertiggestellten ScanMedia-Gebäudes und sinnierte über ein Leben der Verführung und des Ehebruchs. Er schaute auf den dunkler werdenden Hamburger Horizont und dachte an all die Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, wenn er bei seiner Frau hätte sein sollen. Und in jenem Moment empfand er eine ehrliche, uneingeschränkte Reue.
    Der Grund dafür, dass er an all die Frauen in seinem Leben dachte und Mitgefühl mit seiner Ehefrau verspürte, war die schlichte Tatsache, dass nun alles hinter ihm lag. Etwas Unerwartetes war Peter Claasens zugestoßen: Mit zweiundvierzig Jahren hatte er sich verliebt. Von Anfang an konnte man die Sache nicht mit seinen anderen Affären vergleichen, denn Emily hatte nicht auf seine üblichen Manöver und Tricks reagiert und war nicht sofort mit ihm im Bett gelandet. Sie hatte mit ihm geredet und ihm zugehört. Es war, als wäre Emily blind für sein Äußeres, was ihr gestattete, sein Innerstes wahrzunehmen. Und nun hatte Claasens, wenn sie nicht bei ihm war, das Gefühl, den Atem anhalten zu müssen, bis seine Lunge brannte.
    Emily war eine Engländerin mit feuerrotem Haar und grünen Augen. Sie sprach fließend Deutsch, doch mit dem niedlichsten Akzent. Offensichtlich hatte sie der Grammatik der Sprache nie die geringste Beachtung geschenkt. Und sie war entzückend unbeholfen, sodass er eines Tages außerhalb seiner Büroräume buchstäblich über sie stolperte. Sie war schwer gestürzt, und er hatte ihr auf die Beine geholfen und ihr angeboten, sich in seinem Büro ein wenig auszuruhen. Sie hatte charmant gelächelt und erklärt, dass es ihre Schuld sei und dass es ihr bestens gehe. Dann

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