Walküre
hatte sie ihre Sachen aufgesammelt und war weitergeeilt. Claasens kehrte nicht in sein Büro zurück, sondern lief impulsiv hinter Emily her und bat, sie wenigstens zu einem Kaffee einladen zu dürfen. Sie willigte ein, und damit hatte es begonnen.
Seitdem waren zwei Monate vergangen. In dieser kurzen Zeit hatte der stürmische englische Rotschopf seine Welt auf den Kopf gestellt. Sie hatte gezögert, sich mit einem verheirateten Mann einzulassen, doch er hatte behauptet, seine Ehe sei seit Jahren zum Untergang verurteilt. Als sie ankündigte, sie wolle nach England zurückkehren, beteuerte Claasens, er könne ohne sie nicht mehr leben. Er werde seine Frau verlassen, und sie könnten sich gemeinsam hier in Hamburg eine Wohnung suchen. Doch Emily wollte niemandem unnötig wehtun. Er solle seiner Frau mitteilen, dass er ausziehen werde, weil ihre Ehe nicht mehr zu retten sei, aber er solle verschweigen, dass er eine neue Beziehung begonnen habe. Das sei besser für seine Frau und die Kinder und auch für Emily und Claasens. Sie hatte ihn sogar gebeten, ihr den Brief zu zeigen, den er seiner Frau zu schicken gedachte. Dann hatte sie Änderungen daran vorgenommen, damit niemand unnötig verletzt wurde. Emily war ein guter Mensch. Ein viel, viel besserer Mensch als er, und durch sie wurde auch er zu jemandem, an dem er Gefallen finden konnte.
Und nun stand er hoch oben auf einem der größten Hamburger Bauprojekte außerhalb der HafenCity und dachte an die Vergangenheit, die er bald hinter sich lassen würde.
»Hallo, Peter.«
Er drehte sich zu ihr um. Der dunkle Wollmantel und die Baskenmütze betonten das Rot ihrer Haare und das Grün ihrer Augen.
»Hallo, Emily.« Er lächelte und beugte sich vor, um sie zu küssen, doch sie legte ihre in Handschuhen steckenden Fingerspitzen an seinen Mund.
»Hast du ihn mitgebracht?«, fragte sie.
»Ja, ich habe ihn mitgebracht. Und ihn genauso abgeändert, wie du es wolltest. Typisch, dass du dir um andere Menschen Sorgen machst. Ich habe unsere Beziehung nicht erwähnt. Auch deine anderen Vorschläge habe ich berücksichtigt. Aber ich glaube immer noch, dass es besser gewesen wäre, sie persönlich zu unterrichten. Ein Brief... ich weiß nicht ...«
»Darf ich mal sehen?«
Er reichte ihr den Brief, und sie las ihn durch. Wie Emily angeregt hatte, teilte Claasens seiner Frau mit, dass er nicht mehr wie bisher weiterleben könne, dass die Arbeit den Stress erhöht habe und dass es ihm leid tue, ihr und den Kindern durch seinen Schritt Schmerzen zu bereiten.
»Perfekt«, sagte Emily und faltete den Brief zusammen. Sie lehnte sich gegen das Metallgeländer, das aus Sicherheitsgründen vorübergehend errichtet worden war, während man das Obergeschoss fertigstellte. Claasens packte ihren Ellbogen und zog sie zurück.
»Du musst vorsichtig sein, Emily«, warnte er sie väterlich.
»Wirklich eine schöne Gebäude.« Sie schaute die zehn Stockwerke ins Atrium hinunter.
»Es soll die moderne Interpretation eines alten Hamburger Kontorhauses sein – du weißt schon, der roten Backsteinhäuser mit einem riesigen Innenhof in der Mitte.«
»So ein seltsamer Name«, sagte sie mit ihrem starken Akzent. »Was bedeutet... Kontorhaus?«
»Solche Häuser stammen noch aus den Tagen der Hanse. Fast jede Hansestadt in Europa hatte ein Kontorhaus: Hamburg, Bremen, Rostock, Danzig, St. Petersburg. Sogar in London gab es eines. Bremen und Hamburg sind die einzigen, die sich noch offiziell Hansestadt nennen.«
»Und dieses Gebäude soll sein wie altes Hanse-Kontorhaus?« Sie schaute wieder über das Geländer hinunter.
»Ja«, erwiderte Claasens zerstreut. »Emily, tritt vom Geländer zurück. Es ist nur provisorisch.« Er lächelte sie an und strich eine rote Haarsträhne hinter ihr Ohr zurück. »Du weißt doch, dass du ein bisschen unfallgefährdet bist. Wir sollten eigentlich gar nicht hier oben sein.«
»Wie hoch ist es?«, fragte sie und beugte sich noch weiter über das Geländer. Claasens zog sie sanft zurück.
»Ich weiß nicht – vielleicht vierhundert Meter.«
»Das ist eine beachtliche forensische Distanz«, meinte sie gedankenverloren.
»Was hast du gesagt, Emily?«
Sie richtete sich auf und wandte sich um. »Ich habe gesagt, das ist eine beachtliche forensische Distanz. Das war eines der ersten Dinge, die ich gelernt habe: so viel forensische Distanz wie möglich zwischen mich selbst und den Ort und Moment des Todes zu bringen.«
Claasens runzelte verblüfft die Stirn.
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