Walkueren
Ein Altersunterschied von dreißig Jahren. Trotzdem konnte sie unglaublich viel, was er nicht konnte.
Er konnte im Grunde nur arbeiten.
Sie konnte das Leben genießen, interessierte sich für alle möglichen und unmöglichen Dinge – Klamotten, Musik, Mode, Reisen, Bücher, Fitness, Yoga.
Er kannte sich mit Geld und Geschäften aus.
Sie war gebildet und weit gereist. Mit sechzehn war sie ein Jahr als Austauschschülerin in Argentinien gewesen, anschließend sechs Monate durch Südamerika gereist und hatte Portugiesisch in Brasilien gelernt. Sie sprach fließend Englisch und hatte einen Masterabschluss in Medienwissenschaften von der University of California. Außerdem konnte sie Französisch, Spanisch und Deutsch.
Er konnte sich mit Mühe und Not auf Englisch verständigen und beherrschte ein paar Worte Dänisch.
Sie war das Abenteuer seines Lebens.
Er fühlte sich wie neugeboren, zwar im selben alten Körper, aber seine Seele war grundsaniert. Hanna Dís hatte ihm ein neues Sehvermögen geschenkt. Jetzt betrachtete er seine Umgebung mit ihren Augen und achtete auf Dinge, die er nie zuvor registriert hatte. Gleichzeitig verfügte er über seine Erfahrungen. Er konnte innerhalb von Sekunden erkennen, ob ein Geschäft – oder im Grunde jede nur denkbare Firma – gut geführt wurde, sich im Aufschwung oder Niedergang befand.
Er war ein Geschäftsmann von Gottes Gnaden. Gute Preise und freundlicher Service. Das war das Geheimnis. Vielleicht noch etwas Finanzsinn. Und vor allem Fleiß.
Magnús Magnússons berufliche Laufbahn begann im Njörður-Laden im Vitastigur, als er gerade einmal zwölf Jahre alt war. Er fing dort im Frühjahr als Botenjunge an und arbeitete den ganzen Tag. Mit seinem Fleiß und seinem Engagement fiel er sofort auf. Wenn er gerade keinen Botengang zu erledigen hatte, räumte er das Lager im Keller auf oder stapelte Waren in die Regale im Laden. Während der Wintermonate, in denen er noch schulpflichtig war, arbeitete er nach dem Unterricht, und sobald er mit vierzehn seinen Schulabschluss hatte, wurde er fest im Laden angestellt, nicht als Botenjunge, sondern als ebenbürtiger Verkäufer mit demselben Lohn wie die Erwachsenen.
Njörður Bernharðsson, der Ladeninhaber, war schon Ende fünfzig und erkannte nicht, dass die Zeiten sich änderten, dass die Kunden ein vielfältigeres Warenangebot forderten und überall Selbstbedienungsläden aus dem Boden schossen. Njörður pflegte zu sagen, diese Selbstbedienungsläden würden nie zu einer Konkurrenz für den Kaufladen an der Ecke werden, denn dorthin kämen die Kunden, die wüssten, was sie bräuchten, und eine persönliche Bedienung wünschten.
Magnús war vollkommen anderer Meinung, aber Njörður wollte nichts ändern. Dann ereilte Magnús’ Arbeitgeber am Heiligabend ein Hirnschlag. Es war in dem Jahr, als Magnús neunzehn wurde. Njörður war halbseitig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Zweieinhalb Jahre war er bettlägerig, bis er endlich seinen Frieden fand.
Es galt als couragiert, dass Sigurveig, Njörðurs Frau, die mit einem gelähmten Ehemann und vier Töchtern zwischen siebzehn und vierunddreißig dasaß, den jungen Mann zum Geschäftsführer machte und ihm die Führung der Firma überließ. Aber Sigurveig ließ sich davon nicht abbringen. Auch wenn sie es nicht erwähnte, so spekulierte sie doch darauf, dass die Firma in der Familie bleiben würde. Sie hatte nämlich bemerkt, dass die jüngste Tochter, Brynhildur, fleißig im Laden mithalf und zu Hause oft davon erzählte, wie tüchtig und ideenreich der junge Geschäftsführer sei. Dennoch überraschte es Sigurveig, als die jüngste Tochter ihr mitteilte, sie habe sich heimlich mit Magnús verlobt – und sei außerdem von ihm schwanger.
Magnús widmete sich voll und ganz dem Geschäft. Er führte Neuerungen ein, verkaufte mittags günstige warme Mahlzeiten und stellte den Laden auf Selbstbedienung um. Obwohl er ein Mann der Zukunft und der neuen Marktbedingungen war, wurde er dennoch ein bisschen wehmütig, als die Handwerker die alte Verkaufstheke entsorgten. Just unter dieser Theke war das Kind gezeugt worden, das seine Verlobte Brynhildur im Bauch trug.
Das Geschäft lief gut. Als Njörður starb, kaufte Magnús der Witwe den Laden ab. Zwei Jahre später war es an der Zeit, zu expandieren, und Magnús eröffnete einen zweiten Laden in Seltjarnarnes und später im selben Jahr noch einen im Árbærviertel. Seine Idee war der Betrieb kleiner
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