Wall Street Blues
Polizei alles mitgenommen oder die Müllabfuhr oder ein anderer Penner. Spielte es eine Rolle? Sachen wurden in New York aufgeschluckt. Sachen und Menschen. Wenn man nur eine Minute nachließ... Manchmal machte es sie müde, alles zusammenzuhalten.
Am Broadway blieb sie vor einem koreanischen Markt stehen, um die appetitlich zusammengestellten dicken roten Erdbeeren und in Scheiben geschnittenen frischen Ananas zu betrachten. Es war einer von Hunderten von makellosen kleinen Märkten, die in den letzten Jahren überall in der Stadt von koreanischen Einwanderern, die sich in die amerikanische Lebensweise einfügten, aufgemacht worden waren. Wie die Inder die Zeitungskioske übernommen und wie es frühere Einwanderer gemacht hatten — die Chinesen mit Wäschereien und Restaurants, die Juden mit chemischen Reinigungen und Schneidergeschäften. Es war das Beste in Amerika, und ihre Kinder stellten dann die Ärzte, Anwälte und Wissenschaftler der nächsten Generation.
Der Broadway war im letzten Jahr zum Bazar geworden. An jeder Ecke gab es einen Unternehmer mit einer Tischdecke oder Wolldecke, der alte Bücher, imitierte Designeruhren, Modeschmuck, Sonnenbrillen, Lederhandtaschen und Gürtel verkaufte. Alles und jedes. Ohne Gewerbeschein und allgemeine Unkosten.
Sie blieb bei Zabar’s stehen, und da es nicht sehr voll war, ging sie hinein, um zwei Schokocroissants zu kaufen, und ging weiter den Broadway hinunter.
Vor der Baptistenkirche in der 79. Street hatte sich ein Jazzquintett aufgebaut und spielte sehr gekonnt »String of Pearls«. Der Altsaxophonist fing ihren Blick auf und flirtete mit ihr. Sie blieb stehen und hörte zu, und dann, ohne jeden Grund, den sie sich denken konnte, erinnerte sie sich an ihre letzten Träume, die beide im Saal der New Yorker Börse stattgefunden hatten. Der Verkäufer von Good Humor in der weißen Jacke mit der Mickymausuhr und dem Pistazieneis. Was hatte sie daran erinnert? Sie stand da und sah dem Quintett zu, aber die Träume waren weg. Die Verbindung war abgebrochen.
Sie warf einen Dollar in den Baßtrommelkasten, der schon eine ansehnliche Menge von Münzen und Scheinen enthielt, grüßte den Altsaxophonisten und riß sich los. Sie würde zu spät kommen, wenn sie sich nicht beeilte.
Rick stand schon am Kino, als sie ankam, und hielt nach ihr Ausschau. Er winkte; die Schlange setzte sich in Bewegung. Sie sah seine Honda, die an der Ecke geparkt und an das Verkehrsschild gekettet war.
»Mmm, fein«, begrüßte er sie, indem er einen Arm um ihre Taille legte und an ihrem Haar roch. In der anderen Hand hatte er einen übergroßen Matchsack.
»Ich habe auf dem Broadway Zeit vertrödelt«, sagte sie. »Es ist wie auf einem riesigen Flohmarkt.«
»Was hast du gekauft?« fragte er und betastete die Zabar’s- Tüte.
»Schokocroissants.«
»Aha, genau das Richtige, um den schlimmsten Appetit vertreiben. Das und ein Kübel Popcorn.«
»Mach einen Riesenkübel Popcorn daraus, und du hast recht«, sagte sie.
Das Publikum war sofort still, als das Licht ausging und der Vorspann begann.
Wetzons deutlichste Erinnerung an Weißes Gift war die lange Kußszene zwischen der Bergman und Cary Grant, und sie war genauso, wie sie sich erinnerte. Sinnlich. Ricks Arm lag um sie, und sie spürte die Wärme seines Körpers durch die dünne Seide ihres Hemds. Sie stellte sich vor, es sei Silvestri, mit dem sie hier saß, und eine warme Woge durchströmte sie. Sie gab sich Mühe, sich auf den Film zu konzentrieren, und trotz allem war sie bald in die Geschichte gezogen.
Der Schlüssel! Sie hatte vergessen, daß der Höhepunkt des Films die Szene war, in der die Bergman den Schlüssel zu Claude Raines Weinkeller für Grant stiehlt und infolgedessen von den Nazis als Spionin enttarnt wird.
Verdammt. Es war unausweichlich. Kaum war sie in die Stimmung des Films eingetaucht, wurde sie durch die ähnliche Geschichte mit den Schlüsseln wieder in die Wirklichkeit gerissen.
»Ich habe dich irgendwo verloren«, beklagte sich Rick, als sie das Kino verließen.
Auf dem Broadway ging es zu wie in einem Bienenkorb. Zum Abendessen gekleidete Paare, volle Restaurants. Die Schlange für die U-Bahnmarken an der 72. Street, größtenteils junge Leute im Highschool- und Collegealter, reichte bis aus der Station heraus. Es war Samstag abend, ein Frühlingswochenende. Freude für die Welt. »Ich weiß, Rick, du hast recht. Entschuldige«, sagte sie. »Meine Gedanken kommen immer wieder auf die Morde
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