Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
tranken.
|253| »Natürlich hat er das.«
»Seit ich mich dazu entschloß, Polizist zu werden, war es vorbei.«
»Vielleicht hatte er andere Erwartungen?«
»Aber welche? Er hat doch nie etwas gesagt.«
Kurt Wallander machte seiner Schwester ein Bett auf dem Sofa.
Nachdem sie die Sache mit ihrem Vater vorläufig geklärt hatten, erzählte Kurt Wallander von allem, was in der Zwischenzeit sonst noch geschehen war. Plötzlich begriff er, daß die alte Vertrautheit, die sie früher einmal miteinander verbunden hatte, nicht mehr bestand.
Wir haben uns zu selten getroffen, dachte er. Sie wagt noch nicht einmal, mich zu fragen, warum Mona und ich getrennte Wege gegangen sind.
Er holte eine halbgeleerte Kognakflasche hervor. Sie schüttelte abwehrend den Kopf, so daß er nur sein eigenes Glas füllte.
Valfrid Ströms Geschichte war das Hauptthema der Abendnachrichten. Rune Bergmans Identität wurde dagegen noch nicht enthüllt. Kurt Wallander wußte, daß der Grund dafür seine Vergangenheit als Polizeibeamter war. Er nahm an, daß der Reichspolizeichef bereits auf Hochtouren daran arbeitete, geeignete Verschleierungstaktiken auszuklügeln, um Rune Bergmans Identität solange wie möglich geheimzuhalten.
Aber früher oder später würde die Wahrheit natürlich trotzdem herauskommen.
Kurz nach dem Ende der Nachrichten klingelte das Telefon.
Kurt Wallander bat seine Schwester, abzuheben.
»Frag erst einmal, wer es ist, und sag dann, daß du nachsehen mußt, ob ich zu Hause bin«, bat er sie.
»Es ist jemand, der Brolin heißt«, sagte sie, als sie aus dem Flur zurückkam.
Mühselig stand er von seinem Stuhl auf und nahm den Apparat.
|254| »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, sagte Anette Brolin.
»Überhaupt nicht. Meine Schwester ist hier zu Besuch.«
»Ich wollte nur anrufen und dir sagen, daß ihr meiner Meinung nach eine außergewöhnlich gute Arbeit geleistet habt.«
»Wir haben wohl vor allem Glück gehabt.«
Weshalb ruft sie an, dachte er. Er faßte einen schnellen Entschluß.
»Einen Drink?« schlug er vor.
»Gerne. Wo?« Er hörte, daß sie überrascht war.
»Meine Schwester will sich gerade hinlegen. Bei dir?«
»In Ordnung.«
Er legte den Telefonhörer auf und ging wieder zurück ins Wohnzimmer.
»Ich habe überhaupt nicht vor, mich schon hinzulegen«, sagte seine Schwester.
»Ich geh’ noch mal raus. Warte nicht auf mich. Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme.«
Der kühle Abend ließ einen leicht atmen. Er bog in die Regimentsstraße ein und fühlte eine plötzliche Leichtigkeit in sich aufsteigen. Sie hatten den brutalen Mord bei Hageholm innerhalb von 48 Stunden gelöst. Jetzt würden sie sich wieder auf den Doppelmord von Lenarp konzentrieren können.
Er wußte, daß er gute Arbeit geleistet hatte.
Er hatte seiner Intuition vertraut, ohne zu zögern gehandelt, und beides zusammen hatte zu Ergebnissen geführt.
Der Gedanke an die wahnsinnige Verfolgungsjagd mit dem Viehtransporter ließ ihn schaudern. Aber die Leichtigkeit blieb trotzdem.
Er betätigte die Türsprechanlage, und Anette Brolin antwortete. Sie wohnte im zweiten Stock eines Hauses, das um die Jahrhundertwende gebaut worden war. Die Wohnung war groß, aber nur sparsam möbliert. An einer Wand lehnten ein paar Bilder, die noch darauf warteten, aufgehängt zu werden.
|255| »Gin-Tonic?« fragte sie. »Ich befürchte, daß ich nicht allzuviel Auswahl habe.«
»Gerne«, antwortete er. »Im Moment spielt es kaum eine Rolle, was es ist, Hauptsache es ist stark.«
Sie setzte sich ihm gegenüber auf ein Sofa und zog die Beine hoch. Er fand sie sehr attraktiv.
»Weißt du eigentlich, wie du aussiehst?« fragte sie lachend.
»Das fragen alle«, antwortete er.
Dann erinnerte er sich an Klas Månsson. Den Ladendieb, den Anette Brolin nicht weiter in Haft behalten wollte. Er dachte, daß er eigentlich gar keine Lust mehr hatte, über die Arbeit zu reden. Aber er konnte es trotzdem nicht lassen.
»Klas Månsson«, sagte er. »Erinnerst du dich an den Namen?«
Sie nickte.
»Hansson beklagte sich darüber, daß du der Meinung bist, unsere Ermittlungen seien schlecht geführt worden. Daß du keine Verlängerung der Untersuchungshaft befürworten würdest, wenn die Ermittlungen nicht sorgfältig überarbeitet würden.«
»Die Ermittlung war schlecht. Schlampig geschrieben. Unzureichende Beweise. Vage Zeugenaussagen. Ich würde mich eines Dienstvergehens schuldig machen, wenn ich aufgrund eines solchen
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