Wallander 02 - Hunde von Riga
können. Aus seiner weit zurückliegenden Schulzeit erinnerte er sich nur vage und bruchstückhaft an eine geographische Übersicht von Europa. In den Tagen vor seiner Abreise aus Ystad hatte er versucht, alles, was er über Lettland in die Finger bekommen konnte, zu lesen. Nun meinte er, das Bild eines kleinen Landes erahnen zu können, das ständig |111| durch die unberechenbaren Wechselbäder der Geschichte zu einem Opfer der Konflikte unter Großmächten geworden war. Mehrere Male hatte selbst Schweden mit grausamer Entschlossenheit in diesem Land gewütet. Aber er glaubte auch zu verstehen, daß die jetzt herrschende politische Situation ihren schicksalsträchtigen Beginn im Frühjahr 1945 genommen hatte, als die deutsche Kriegsmaschinerie zerschlagen war und die Sowjetmacht sich endgültig Lettland einverleibte. Der Versuch, eine unabhängige Regierung zu bilden, war brutal unterdrückt worden, und die Befreiungsarmee aus dem Osten hatte sich durch die unwiderstehliche Lust der Geschichte an zynischen Kehrtwendungen in ihr Gegenteil verkehrt: in ein Regime, das rücksichtslos und entschlossen die gesamte lettische Nation unterdrückte.
Im Grunde genommen wußte er kaum etwas. Sein Wissen hatte große Lücken.
Die zwei lautstarken Dänen, die sich offenbar in Riga aufhielten, um Geschäfte mit landwirtschaftlichen Maschinen zu machen, waren bis zur Paßkontrolle vorgerückt. Als Wallander seinen Paß herausholen wollte, spürte er, wie ihn jemand an der Schulter berührte. Er zuckte zusammen, als fürchtete er, verhaftet zu werden. Als er sich umwandte, stand ein Mann in einer graublauen Uniform vor ihm.
»Kurt Wallander?« fragte der Mann. »Mein Name ist Jazeps Putnis. Ich muß mich dafür entschuldigen, daß ich zu spät bin, aber das Flugzeug ist früher gelandet als angekündigt. Sie sollen natürlich nicht durch irgendwelche Formalitäten belästigt werden. Wir nehmen diesen Weg hier.«
Jazeps Putnis sprach ausgezeichnet Englisch. Wallander erinnerte sich an Major Liepas ständigen Kampf, die richtigen Worte und die richtige Aussprache zu finden. Er folgte Putnis zu einer Tür, an der ein Soldat Wache stand. Sie kamen in eine weitere Halle, ebenso düster und baufällig, in der Koffer von einem Transporter abgeladen wurden.
»Ich hoffe, daß Ihr Gepäck nicht allzu lange auf sich warten |112| läßt«, sagte Putnis. »Ich möchte Sie herzlichst in Lettland und Riga willkommen heißen. Haben Sie unser Land früher schon einmal besucht?«
»Nein«, antwortete Wallander. »Dazu ist es leider nie gekommen.«
»Ich hätte mir natürlich gewünscht, daß die Umstände Ihres Besuchs anderer Art gewesen wären«, fuhr Putnis fort. »Major Liepas Tod ist ein äußerst tragisches Ereignis.«
Wallander wartete vergebens auf eine Fortsetzung. Jazeps Putnis, der dem Telex zufolge, das die schwedische Polizei erhalten hatte, den Rang eines Obersten bekleidete, verstummte schlagartig. Anstatt weiter über den toten Major zu sprechen, ging er mit raschen Schritten zu einem Mann in einem ausgebleichten Overall und einer Pelzmütze, der lässig an eine Wand gelehnt stand. Der Mann streckte sich, als Putnis ihn mit barscher Stimme ansprach. Dann verschwand er hastig durch eine der Türen, die auf das Flugfeld hinausführten.
»Es dauert immer unerklärlich lange«, sagte Putnis und lächelte. »Haben Sie in Schweden das gleiche Problem?«
»Manchmal«, entgegnete Wallander. »Es kommt vor, daß man warten muß.«
Oberst Putnis war das genaue Gegenteil von Major Liepa. Er war sehr groß, bewegte sich zielbewußt und energisch und hatte einen durchdringenden Blick. Das Profil war scharf, und die grauen Augen schienen alles wahrzunehmen, was in ihrer Umgebung geschah.
Oberst Putnis erinnerte Wallander an ein Tier, vielleicht einen Luchs oder auch einen Leoparden in graublauer Uniform.
Er versuchte, das Alter des Obersten zu schätzen. Er war vielleicht fünfzig. Aber er konnte auch wesentlich älter sein.
Ein Gepäckwagen näherte sich ratternd und in eine rußige Abgaswolke gehüllt hinter einem Traktor. Wallander entdeckte sofort seinen Koffer, konnte aber nicht verhindern, daß Oberst Putnis ihn trug. Neben einer Reihe mit Taxis stand ein schwarzer Streifenwagen der Marke Volga und wartete. Ein |113| Chauffeur hielt ihnen die Tür auf und salutierte. Wallander wurde dadurch völlig überrumpelt, aber es gelang ihm immerhin, einen etwas mißglückten Gruß zustande zu bringen.
Das hätte Björk sehen sollen,
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