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Wallander 03 - Die weisse Löwin

Wallander 03 - Die weisse Löwin

Titel: Wallander 03 - Die weisse Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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den Hühnerstall seiner Kindheit erinnerte. Der Mann am Lenkrad hatte eine Schirmmütze tief über die Augen gezogen. Er drehte sich um und betrachtete ihn schweigend. Dann fuhren sie los, und der Chauffeur und Matilda begannen sich in einer Sprache zu unterhalten, die Scheepers nicht verstand. Er wußte jedoch, daß es
Xhosa
war. Die Fahrt ging in südwestliche Richtung. Scheepers schien es, daß der Mann am Steuer viel zu schnell fuhr. Bald hatten sie das Zentrum von Johannesburg hinter sich gelassen und waren auf dem Weg zu dem weitverzweigten Autobahnnetz, wo die Fahrspuren in verschiedene Richtungen führten. Soweto, dachte Scheepers. Bringen sie mich dorthin?
    Aber Soweto war nicht das Ziel. Sie passierten Meadowsland, und der erstickende Rauch lag dicht über der staubigen Landschaft. Kurz hinter dem Durcheinander aus verfallenen Häusern, Hunden, Kindern, Hühnern, verbeulten und ausgebrannten Autos bremste der Fahrer. Matilda stieg aus und setzte sich neben Scheepers auf den Rücksitz. In der Hand hielt sie eine schwarze Mütze.
    »Von jetzt ab darfst du nichts mehr sehen.«
    Er protestierte und schob ihre Hand weg.
    »Wovor hast du Angst? Entscheide dich.«
    Er nahm die Mütze. »Warum?« fragte er.
    »Es gibt tausend Augen. Du sollst nichts sehen, und niemand soll dich sehen.«
    »Das ist keine Antwort, das ist ein Rätsel.«
    »Nicht für mich. Entscheide dich endlich!«
    Er zog sich die Mütze über. Sie fuhren weiter, unvermindert schnell, obwohl die Straße immer schlechter wurde. Scheepers |435| fing die Stöße ab, so gut er konnte. Trotzdem schlug er mit dem Kopf mehrmals schmerzhaft gegen das Autodach. Er verlor das Zeitgefühl. Die Mütze klebte an der Haut, und sein Gesicht begann zu jucken.
    Der Wagen bremste und hielt. Irgendwo bellte wie verrückt ein Hund. Musik aus einem Radio näherte und entfernte sich wellenartig. Trotz der Mütze spürte er den Rauch eines Feuers. Matilda half ihm aus dem Auto. Dann nahm sie ihm die Mütze ab. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht und blendete ihn. Als sich die Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, daß sie sich mitten in einem Wirrwarr von Hütten befanden, die aus Wellblech, Kartons, Säcken, Plastikteilen und Planen zusammengestückelt waren. Es gab Behausungen, in denen ein Autowrack als Zimmer diente. Es stank nach Abfällen; ein räudiger Hund schnappte nach seinem Bein. Er betrachtete die Menschen, die in dieser Misere lebten. Niemand schien von seiner Anwesenheit Notiz zu nehmen. Er spürte weder Bedrohung noch Neugier, nur Gleichgültigkeit. Für ihre Augen gab es ihn nicht.
    »Willkommen in Kliptown«, sagte Matilda. »Vielleicht ist das hier Kliptown, vielleicht eine andere Shanty-town. Du würdest sowieso niemals hierher zurückfinden. Die sehen alle gleich aus. Das Elend ist überall genauso groß, riecht genauso, wird von den gleichen Menschen bewohnt.«
    Sie führte ihn durch das Chaos der Hütten. Er kam sich vor wie in einem Labyrinth, das ihn verschluckte und ihn seiner Vergangenheit beraubte. Nach wenigen Schritten hatte er die Orientierung total verloren. Er dachte an das Unglaubliche, nämlich daß er hier an der Seite von Jan Kleyns Tochter ging. Aber das Unglaubliche war das Erbe, das nun zum letztenmal wechseln und dann vergehen würde.
    »Was siehst du?« fragte sie.
    »Dasselbe wie du«, antwortete er.
    »Nein!« sagte sie scharf. »Empört es dich?«
    »Natürlich.«
    »Mich nicht. Empörung ist eine Treppe. Es gibt viele Stufen. Wir stehen nicht auf derselben.«
    |436| »Du bist vielleicht schon ganz oben angekommen?«
    »Beinahe.«
    »Ist die Aussicht eine andere?«
    »Man kann weiter sehen. Zebras, die in wachsamen Herden grasen. Antilopen, die die Gravitation zu überwinden scheinen. Eine Kobra, die sich in einem verlassenen Termitenhügel versteckt hat. Frauen, die Wasser tragen.«
    Sie blieb stehen und wandte sich ihm zu. »Ich entdecke meinen eigenen Haß in ihren Augen. Das jedoch können deine Augen nicht sehen.«
    »Was willst du denn als Antwort von mir hören? Ich meine, daß es die reine Hölle sein muß, so zu leben. Die Frage ist nur, ob das mein Fehler ist.«
    »Das kann sein«, erwiderte sie. »Das kommt darauf an.«
    Sie drangen weiter in das Labyrinth ein. Allein würde er nie wieder hinausgelangen. Ich brauche sie, dachte er. Wie wir die ganze Zeit auf die Schwarzen angewiesen waren. Und das weiß sie.
    Matilda blieb vor einer Hütte stehen, die ein wenig größer war als die anderen, allerdings

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